Invaliditätsbegriff und Invaliditätsbemessung

Eine Rente wird nur bezahlt, wenn eine Invalidität im rechtlichen Sinn besteht und wenn diese Invalidität einen bestimmten Grad erreicht.  

Auch wer in erheblichem Mass gesundheitlich beeinträchtig ist, erfüllt die Voraussetzungen für eine Rente nicht immer; denn eine Invalidität wird erst anerkannt, wenn sich die gesundheitlichen Probleme auf die Erwerbsmöglichkeiten in der angestammten oder in einer angepassten Tätigkeit bzw. auf die Arbeitsfähigkeit im angestammten Aufgabenbereich auswirken. So kommt es, dass – zum Erstaunen vieler – ein Paraplegiker oft keine Rente bezieht, weil er beruflich gut eingegliedert ist.  

Die Invaliditätsbemessung gibt wie keine andere Frage im Bereich des Sozialversicherungsrechts regelmässig zu rechtlichen Auseinandersetzungen Anlass. Das liegt einerseits daran, dass es für die betroffenen Personen um einen existentiellen Anspruch geht: Nur wer über die nötigen Mittel verfügt, kann auch aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Es liegt aber andererseits auch daran, dass die Ausgaben für Renten die Sozialversicherer und die Öffentlichkeit stark belasten, weshalb diese bemüht sind, die Voraussetzungen restriktiv auszulegen.  

In diesem Kapitel wird erklärt, wann im schweizerischen Sozialversicherungsrecht eine Invalidität anerkannt wird und wie der Invaliditätsgrad bemessen wird. Dabei werden nur die wesentlichen Grundsätze dargestellt, auf alle Besonderheiten kann nicht eingegangen werden.


    Der Invaliditätsbegriff

    Als „Invalidität“ wird gemäss gesetzlicher Definition eine voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit verstanden. Eine „Erwerbsunfähigkeit“ liegt dann vor, wenn als Folge einer Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit auch nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung ein vollständiger oder teilweiser Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt resultiert.

    Jeder Invalidität muss somit als erstes eine gesundheitliche Beeinträchtigung zugrunde liegen. Die Ursache dieser gesundheitlichen Beeinträchtigung ist ohne Bedeutung. Es spielt also keine Rolle, ob eine Person von Geburt an beeinträchtigt ist oder ob sie später erkrankt oder verunfallt.  

    Der Gesundheitsschaden kann körperlicher, geistiger oder psychischer Art sein. Während sich körperliche und sensorische Beeinträchtigungen meistens mit bildgebenden Verfahren und im Rahmen von klinischen Untersuchungen nachweisen lassen, bestehen diesbezüglich bei geistigen und psychischen Beeinträchtigungen grosse Schwierigkeiten.

    Beispiel

    Herr S leidet als Folge eines Geburtsgebrechens an einer Intelligenzminderung. In einem Test ist ein IQ von 75 ermittelt worden. Zusätzlich hat eine neuropsychologische Untersuchung erhebliche Defizite in den Bereichen der Wahrnehmung und Konzentration ergeben.
    Nach geltender Praxis liegt ein geistiger Gesundheitsschaden vor, wenn der IQ unter 70 liegt. Weil aber bei Herrn S noch zusätzliche Einschränkungen bestehen, wird bei ihm das Vorliegen einer Invalidität bejaht.

    Beispiel

    Frau H ist vor 8 Jahren in die Schweiz eingereist und beherrscht die hiesige Sprache nur mässig. Nun ist sie von ihrem Mann verlassen worden. Auch am Arbeitsplatz erhöht sich der Druck und es droht der Verlust der Arbeitsstelle. Frau H reagiert auf diese Geschehnisse mit einer Depression.
    Solange eine psychische Beeinträchtigung in erster Linie auf persönliche und soziokulturelle Faktoren zurückzuführen ist, liegt gemäss geltender Praxis noch kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor. Erst wenn sich die depressive Störung von Frau H verselbständigt und chronifiziert hat, wird eine Invalidität anerkannt.

    Eine gesundheitliche Beeinträchtigung genügt für sich allein nicht zur Annahme einer Invalidität, auch wenn sie die körperliche und seelische Integrität eines Menschen noch so stark beeinflusst. Für die Sozialversicherungen ist sie im Hinblick auf die Beurteilung eines Rentenanspruchs erst dann relevant, wenn sie die Erwerbsfähigkeit einschränkt, und zwar für die Dauer von mehr als einem Jahr. Massgebend ist somit, wie stark als Folge der gesundheitlichen Beeinträchtigung die Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkt werden.  

    Eine Invalidität liegt zudem nur vor, wenn die Erwerbsunfähigkeit einer Person wirklich primär Folge ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung und nicht anderer Faktoren ist. Dieser Kausalzusammenhang muss gegeben sein. Ausser Acht gelassen werden persönliche Faktoren wie Ausländerstatus, sprachliche Probleme, Alter oder auch Probleme auf dem Arbeitsmarkt (Rezession).

    Beispiel

    Herr F arbeitet seit 30 Jahren als Hilfsarbeiter auf dem Bau. Im Alter von 53 Jahren muss er seine Tätigkeit wegen Kniebeschwerden aufgeben. Die medizinischen Abklärungen der Invalidenversicherung ergeben, dass Herr F nicht mehr auf seinen Beruf zurückkehren kann. In einer leichteren vorwiegend sitzenden Tätigkeit wird jedoch eine volle Arbeitsfähigkeit attestiert. Obschon die IV Herrn F bei der Stellensuche unterstützt, findet dieser keine neue Stelle mehr.
    Dass Herr F wegen seines Alters, seiner sprachlichen Defizite und eher bescheidenen Anpassungsfähigkeit keine Arbeit mehr findet, wird bei der Invaliditätsbemessung nicht berücksichtigt. Nur wenn eine Person kurz vor Erreichen des AHV-Alters ihre langjährige Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen aufgeben muss, wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sie praktisch nicht mehr eingegliedert werden kann.

    Es gibt gewisse Personengruppen, bei denen sich die Erwerbsunfähigkeit als untaugliches Kriterium für die Feststellung einer Invalidität erweist. Zu denken ist etwa an Hausfrauen und Hausmänner, die auch ohne gesundheitliche Beeinträchtigung keiner Erwerbstätigkeit nachgehen würden: Diese Personen gelten dann als invalid, wenn ihre Arbeitsfähigkeit bezüglich ihres Aufgabenbereichs (z.B. der Haushaltführung und Kinderbetreuung) während mehr als eines Jahres beeinträchtigt ist.

    Bundesgerichtspraxis zu somatoformen Schmerzstörungen, vergleichbaren psychosomatischen Leiden und Depressionen sowie zu Abhängigkeitserkrankungen

    Früher galten eine ganze Reihe von gesundheitlichen Beeinträchtigungen als objektiv überwindbar und begründeten deshalb in aller Regel keine Invalidität.

    Es waren dies Schmerz- und Ermüdungszustände, die sich organisch nicht (oder zumindest nicht im geklagten Ausmass) erklären liessen, wie z.B. die somatoformen Schmerzstörungen, die Fibromyalgie, das Chronic Fatigue Syndrom, die Hypersomnie oder das Schleudertrauma ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle. Diese gesundheitlichen Beeinträchtigungen wurden „pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ohne nachweisbare organische Ursache“ genannt. In einem Urteil des Jahres 2015 (141 V 281) gab das Bundesgericht die bisherige Vermutung auf, wonach somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische Leiden in aller Regel mit zumutbarer Willensanstrengung überwunden werden können. Es hielt fest, dass künftig das tatsächliche Leistungsvermögen jeder Person mit einer derartigen Diagnose „ergebnisoffen“ bewertet werden soll. An Stelle der bisherigen gesetzlichen Vermutung definierte das Bundesgericht einen strukturierten normativen Prüfungsraster mit Indikatoren

    Dabei soll insbesondere geprüft werden, ob die nach dem Stand der Wissenschaft indizierten therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind und ob die betroffene Person bei der Behandlung kooperativ mitgewirkt hat. Weiter soll abgeklärt werden, ob die beklagten Schmerzen konsistent sind und sich im Privatleben im gleichen Ausmass manifestieren wie im Berufsleben. Schliesslich verlangt die bundesgerichtliche Rechtsprechung, dass die persönlichen Ressourcen zur Überwindung des Leidens berücksichtigt werden. Ebenfalls zu berücksichtigen sind aber auch weitere somatische oder psychiatrische Diagnosen, die den Heilungsprozess unter Umständen erschweren. Je nach Ausgang der umfassenden Überprüfung wird nun sodann eine Invalidität anerkannt oder nicht. Seit einem Urteil des Bundesgerichts von Ende 2017 (143 V 418) gilt das strukturierte Prüfungsraster auch für die Beurteilung psychischer Erkrankungen und somit insbesondere auch für die Beurteilung von Depressionen. In einem Urteil von Mitte 2019 (145 V 215) hat das Bundesgericht das strukturierte Prüfungsraster sodann auch auf Suchterkrankungen ausgedehnt. 

    Beispiel

    Frau T leidet seit vielen Jahren an diffusen Schmerzen, welche von ihren Ärzten als Fibromyalgie diagnostiziert worden sind. Sie hat deswegen ihre Arbeit vor 3 Jahren aufgegeben. Alle therapeutischen Versuche sind bisher gescheitert. Die Invalidenversicherung wird anhand der vom Bundesgericht definierten Indikatoren prüfen müssen, ob die Fibromyalgie und ihre Auswirkungen als invalidisierend anerkannt werden können und Anspruch auf IV-Leistungen ergeben.

    Beispiel

    Herr B trinkt übermässig Alkohol und hat deswegen seine langjährige Stelle verloren. Die Ärzte halten ihn aufgrund seiner Suchterkrankung auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr für vermittelbar.
    Suchterkrankungen (wie z.B. Alkoholismus, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit) galten lange nur dann als invalidisierende Beeinträchtigungen im Sinn der Sozialversicherungen, wenn die Sucht selber Folge einer anderen gesundheitlichen Beeinträchtigung (z.B. einer schweren Persönlichkeitsstörung) war oder wenn sie ihrerseits zu einer irreversiblen Beeinträchtigung (z.B. neuropsychologische Störung) geführt hatte. Um Letzteres beurteilen zu können, verlangten die Sozialversicherer häufig, dass sich die betreffende Person einer Entzugsbehandlung unterzog. Seit dem Bundesgerichtsurteil von Mitte 2019 (145 V 215), wonach das strukturierte Prüfungsraster auch bei Suchterkrankungen anzuwenden ist, muss die IV den Rentenanspruch von Herrn B mittels strukturiertem Prüfungsraster abklären. Je nach Konstellation kann die IV Herrn B nach der Zusprechung einer IV-Rente gestützt auf die grundsätzliche Schadenminderungspflicht aber zur Teilnahme an zumutbaren medizinischen Behandlungen (z.B. Entzugsbehandlung) auffordern.

    Verschiedene Methoden der Invaliditätsbemessung

    Die Bemessung des Invaliditätsgrades ist oft komplex und gibt zu vielen rechtlichen Auseinandersetzungen Anlass.  In der Invalidenversicherung wird zwischen drei verschiedenen Methoden unterschieden.

    • Die Methode des Einkommensvergleichs kommt zur Anwendung, wenn eine Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im Umfang von 100% einer Erwerbstätigkeit nachgehen würde.
    • Die Methode des Betätigungsvergleichs kommt zur Anwendung, wenn eine Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keiner Erwerbstätigkeit nachgehen würde, dafür aber in einem „Aufgabenbereich“ tätig wäre (z.B. Haushaltführung oder Kinderbetreuung).
    • Die gemischte Methode kommt zur Anwendung, wenn eine Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung einer Teilerwerbstätigkeit nachgehen würde und daneben noch in einem anderen Aufgabenbereich tätig wäre.

    Massgebend für die Wahl der Methode ist immer, was eine Person ohne ihre gesundheitliche Beeinträchtigung tun würde. Weil diese Frage nie mit absoluter Sicherheit beantwortet werden kann, wird ermittelt, welches die überwiegend wahrscheinliche Konstellation ist. Die Abklärungsdienste der IV-Stellen beurteilen die Frage aufgrund einer Befragung der betroffenen Person und unter Berücksichtigung der Verhältnisse vor Eintritt der Invalidität.

    Beispiel

    Frau C, 38-jährig, seit 10 Jahren verheiratet, hat bis kurz vor der Geburt ihrer Tochter vor 8 Jahren zu 100% als kaufmännische Angestellte gearbeitet. Seither besorgt sie den Haushalt und betreut ihre Tochter. Vor 5 Jahren ist sie an Multipler Sklerose erkrankt. Nachdem sich ihr Gesundheitszustand erheblich verschlechtert hat, meldet sie sich zum Bezug von IV-Leistungen an.
    In diesem Fall steht zwar fest, dass Frau C vor Eintritt der Invalidität nicht erwerbstätig gewesen ist. Es ist aber durchaus denkbar, dass sie ohne ihre Krankheit wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte, beispielsweise seitdem die Tochter zur Schule geht. Für die IV ist massgebend, welche Möglichkeit als die wahrscheinlichste erscheint. Diese Frage wird aufgrund der konkreten Umstände (Beziehung der Frau zu ihrem Beruf, finanzielle Verhältnisse, Betreuungsbedarf des Kindes) beantwortet. In diesem Fall kommt der Abklärungsdienst der IV zum Ergebnis, dass Frau C mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wieder eine 50%-Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte. Es gelangt deshalb die gemischte Methode zur Anwendung.

    Anders als in der Invalidenversicherung wird bei der Unfallversicherung und der beruflichen Vorsorge der Invaliditätsgrad immer nach der Methode des Einkommensvergleichs ermittelt.

    Die Methode des Einkommensvergleichs

    Bei der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs wird der Invaliditätsgrad aufgrund eines Vergleichs zweier Einkommen ermittelt.

    • einerseits des Einkommens, das die betreffende Person mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielen würde (sog. Valideneinkommen)  
    • andererseits des Einkommens, welches die betreffende Person nach Durchführung der zumutbaren Behandlung und Eingliederung auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt theoretisch noch erzielen könnte (sog. zumutbares Invalideneinkommen)

    Beispiel

    Herr T hat vor seinem Unfall als Dachdecker gearbeitet und einen monatlichen Verdienst von 5'900 Franken erzielt. Da Herr T weiter auf seinem Beruf gearbeitet hätte und der Arbeitgeber den Lohn der Teuerung angepasst hätte, ergibt sich ein Valideneinkommen von 6'000 Franken. Herr T kann nun aus ärztlicher Sicht nur noch zu 50% einer angepassten leichten Tätigkeit nachgehen. Die IV-Stelle ermittelt ein zumutbares Invalideneinkommen von monatlich 2'400 Franken.
    Der Vergleich dieser beiden Einkommen ergibt eine Verdiensteinbusse von 60%. Der Invaliditätsgrad von Herrn T beträgt somit 60%.

    Wie wird das Valideneinkommen ermittelt?

    Gefragt wird, was eine Person im Moment des Einkommensvergleichs ohne gesundheitliche Beeinträchtigung verdienen würde. Wenn eine Person während vielen Jahren auf ihrem Beruf gearbeitet hat und diesen nur wegen der gesundheitlichen Probleme aufgegeben oder reduziert hat, wird auf das letzte Einkommen vor Beginn der gesundheitlichen Einschränkungen abgestellt und dieses der Nominallohnentwicklung angepasst.

    Schwieriger ist es, das Valideneinkommen zu ermitteln, wenn eine Person in den letzten Jahren oft die Stelle gewechselt, unterschiedlichste Einkommen erzielt hat und dazwischen auch arbeitslos gewesen ist. In solchen Fällen wird in der Regel auf die statistischen Durchschnittslöhne abgestellt, welche gemäss Bundesamt für Statistik mit dem erlernten Beruf in der Schweiz erzielt werden (sog. LSE-Tabellenlöhne).

    Die LSE-Tabellen werden auch herangezogen, um zu prüfen, ob eine sog. Parallelisierung vorzunehmen ist: Wird das Valideneinkommen anhand des zuletzt tatsächlich erzielten Einkommens festgesetzt, ist abzuklären, ob sich dieses im Vergleich zum branchenüblichen Einkommen als unterdurchschnittlich erweist. Unterdurchschnittlichkeit wird dann angenommen, wenn das zuletzt tatsächlich erzielte Einkommen um 5% oder mehr unterhalb des branchenüblichen Einkommens liegt. Wird die Unterdurchschnittlichkeit des zuletzt tatsächlich erzielten Einkommens bejaht, wird parallelisiert. Dies bedeutet, dass für das Valideneinkommen anstatt des zuletzt tatsächlich erzielten Einkommens 95% des branchenüblichen Einkommens gemäss LSE-Tabelle berücksichtigt wird.

    Besteht eine Behinderung bereits seit der Geburt oder ist sie in der Jugendzeit eingetreten und konnte die betreffende Person deshalb gar keine eigentliche Berufsausbildung absolvieren, ist es natürlich schwierig zu bestimmen, welches Einkommen sie ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielen würde. Bei diesen Geburts- und Frühbehinderten wird mangels einer präzisen Vergleichsbasis der statistisch ermittelte durchschnittliche Arbeitnehmerlohn in der Schweiz als Valideneinkommen eingesetzt. Auch hierfür wird auf die LSE-Tabellen des Bundesamtes für Statistik abgestellt.

    Beispiel

    Herr O ist geistig beeinträchtigt. Er hat die Sonderschule besucht und anschliessend in einer Eingliederungsstätte eine interne Ausbildung zum Gärtnerei-Praktiker absolviert. Hierbei handelt es sich nicht um einen üblichen anerkannten Ausbildungsabschluss, weshalb bei Herrn O für die Invaliditätsbemessung der durchschnittliche Arbeitnehmerlohn (gemäss LSE-Tabellen des Bundesamts für Statistik) als Valideneinkommen eingesetzt wird.

    Besonders schwierig ist die Ermittlung des Valideneinkommens bei Selbständigerwerbenden. Deren Verdienst unterliegt häufig grossen Schwankungen. Zur Ermittlung des Valideneinkommens wird deshalb auf den Durchschnitt der letzten Jahre zurückgegriffen. Das ist allerdings dann nicht zulässig, wenn ein Betrieb erst in der Aufbauphase ist und damit zu rechnen ist, dass er sich weiterentwickelt hätte. In solchen Fällen muss der mutmassliche Verdienst ohne Invalidität aufgrund einer Abklärung vor Ort und in Berücksichtigung der Ergebnisse ähnlicher Betriebe ermittelt werden.

    Beispiel

    Herr P betreibt eine kleine Bäckerei. In den Jahresabschlüssen der letzten 3 Jahre hat er im Durchschnitt Jahresgewinne zwischen 28‘000 und 36‘000 Franken ausgewiesen und versteuert. Es ist davon auszugehen, dass Herr P ohne sein Lungenleiden seinen Betrieb weitergeführt hätte. Die IV-Stelle setzt deshalb als hypothetisches Einkommen ohne Invalidität einen jährlichen Verdienst von teuerungsangepasst 35‘000 Franken ein. Es nützt Herrn P nichts, dass er als Arbeitnehmer in einer Grossbäckerei mehr verdient hätte, denn für die Bestimmung des Valideneinkommens ist einzig massgebend, was eine Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit verdienen würde, nicht was sie hätte verdienen können.

    Wie wird das zumutbare Invalideneinkommen ermittelt?

    Das Invalideneinkommen entspricht dem Einkommen, das eine gesundheitlich beeinträchtigte Person nach Durchführung von zumutbaren medizinischen Behandlungen und beruflichen Eingliederungsmassnahmen bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage zumutbarerweise erzielen könnte. Was zumutbar ist, bestimmt dabei weitgehend die medizinische Beurteilung.

    Ob eine gesundheitlich beeinträchtigte Person eine ihr zumutbare Tätigkeit tatsächlich ausübt, ist für die Bemessung des Invalideneinkommens nicht erheblich. Bei Personen, die aus irgendwelchen Gründen nicht im Ausmass der von den Ärztinnen und Ärzten festgehaltenen Arbeitsfähigkeit arbeiten, wird das zumutbare Invalideneinkommen daher nicht aufgrund des effektiven Verdienstes festgelegt, sondern in der Regel anhand von statistischen Durchschnittslöhnen des Bundesamts für Statistik (sog. LSE-Tabellenlöhne). Kann eine Person invaliditätsbedingt aber nur noch mit einer funktionellen Leistungsfähigkeit von 50% oder weniger arbeiten, wird vom statistisch ermittelten Invalideneinkommen ein Abzug von 10% vorgenommen (sog. Teilzeitabzug). Seit 1. Januar 2024 gilt zudem: Für alle Rentenansprüche, die ab dem 1. Januar 2024 entstehen, wird der LSE-Tabellenlohn um einen Pauschalabzug von 10% reduziert. Für Personen, welche nur noch mit einer funktionellen Leistungsfähigkeit von 50% oder weniger arbeiten können, beträgt der Abzug ab 1. Januar 2024 somit 20%.

    Beispiel

    Bei Frau S, die früher als Krankenpflegerin gearbeitet hat, verneinen die medizinischen Gutachter eine Arbeitsfähigkeit im früheren Beruf. Sie halten jedoch eine leichte 70%-Erwerbstätigkeit ohne längeres Stehen und ohne Heben von Gewichten von mehr als 5kg als zumutbar. Frau S arbeitet effektiv aber nur noch zu 40% im Geschäft ihres Onkels.

    Da Frau S die ihr zugemutete Arbeitsfähigkeit nicht voll nutzt, wird das Invalideneinkommen nicht aufgrund ihres effektiven Verdienstes festgesetzt, sondern anhand von statistischen Durchschnittslöhnen von Hilfsarbeiterinnen (LSE-Tabellenlohn). Von diesem LSE-Tabellenlohn wird ein Anteil von 70% angerechnet, welcher für den Rentenanspruch ab 1. Januar 2024 noch um den Pauschalabzug von 10% reduziert wird.
    Wäre Frau S lediglich noch im Umfang von 50% arbeitsfähig, würde das anhand des LSE-Tabellenlohns festgesetzte und im Umfang von 50% angerechnete Invalideneinkommen ab 1. Januar 2024 um 20% reduziert.

    Die Sozialversicherungen gehen bei der Festlegung des Invalideneinkommens nicht von den Verdienstmöglichkeiten auf dem realen Arbeitsmarkt aus, sondern unterstellen einen „ausgeglichenenArbeitsmarkt, der das ganze Spektrum möglicher Tätigkeiten anbietet. Das führt zum unbefriedigenden Ergebnis, dass viele Menschen mit Behinderungen zwar keine Stelle mehr finden, aber auch keine Rente erhalten.

    Beispiel

    Herr K hat 38 Jahre lang als Schreiner gearbeitet. Für die bisherige Tätigkeit ist er aufgrund seiner neurologischen Erkrankung zwar unbestrittenermassen nicht mehr arbeitsfähig, gilt jedoch aus Sicht des ärztlichen Dienstes der IV-Stelle für eine leichte und wechselbelastete Tätigkeit ohne körperliche Belastungen und mit der Möglichkeit, jede Stunde eine Pause einzulegen, noch als 80% leistungsfähig. Herr K findet im Alter von 57 Jahren allerdings trotz intensiver Bemühungen in der weiteren Umgebung seines Wohnortes keinen Arbeitgeber, der bereit ist, ihm eine solche Tätigkeit anzubieten

    Ungeachtet dieser Tatsache geht die IV davon aus, dass solche Stellen auf einem „ausgeglichenen“ Arbeitsmarkt vorhanden sind und bemisst das Invalideneinkommen gestützt auf statistische Durchschnittslöhne für ungelernte Tätigkeiten (sog. LSE-Tabellenlöhne), wobei 80% angerechnet werden. Für einen allfälligen Rentenanspruch ab 1. Januar 2024 wird der LSE-Tabellenlohn um den Pauschalabzug von 10% reduziert.

    Muss eine Person die bisherige Tätigkeit kurz vor Erreichen des AHV-Alters aus gesundheitlichen Gründen aufgeben, wird je nach Fallkonstellation unter Umständen anerkannt, dass die Verwertbarkeit einer theoretisch möglichen angepassten Tätigkeit selbst auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nicht mehr gegeben ist. In einem solchen Fall resultiert sodann ein Anspruch auf eine ganze IV-Rente.

    Massgebend ist also immer, was eine gesundheitlich beeinträchtigte Person aufgrund ihrer effektiven Leistungen noch verdienen kann. Wenn der Arbeitgeber aus sozialem Verantwortungsbewusstsein einem langjährigen Mitarbeiter trotz erheblicher Leistungseinbussen den Lohn hochhält, so wird auch dieser sog. Soziallohn in die Berechnung des Invalideneinkommens einbezogen, soweit darauf auch AHV-Beiträge erhoben werden.

    Die Methode des Betätigungsvergleichs

    Die Methode des Betätigungsvergleichs kommt bei allen Personen zur Anwendung, die auch ohne gesundheitliche Beeinträchtigung keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, sondern sich einem „Aufgabenbereich“ widmen würden. Zu denken ist in erster Linie an Hausfrauen und Hausmänner.

    Als Aufgabenbereiche anerkannt werden nebst der Haushaltführung auch die Pflege und Betreuung von Kindern und anderen Familienangehörigen. Gemeinnützige und künstlerische Tätigkeiten sowie reine Freizeitbeschäftigungen gehören nicht zum Aufgabenbereich.  

    Bei all diesen Personen wird die Invalidität bemessen, indem einerseits die verschiedenen Tätigkeiten, welchen eine Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung nachgehen würde, erfasst und gewichtet werden, und darauf bei jeder dieser Teiltätigkeiten geprüft wird, wie weit sie einer gesundheitlich beeinträchtigten Person noch möglich und zumutbar ist. Zusammengezählt ergeben diese Einschränkungen den Invaliditätsgrad.

    Beispiel

    Frau S ist schwer verunfallt und seither Paraplegikerin. Sie ist unmittelbar vor dem Unfall keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen, sondern hat sich um den ehelichen Haushalt und die Betreuung der 2- und 4-jährigen Kinder gekümmert. Frau S gibt an, dass sie auch ohne den Unfall bis zur Schulpflicht ihrer Kinder keine Erwerbstätigkeit aufgenommen hätte. Der Invaliditätsgrad von Frau S wird deshalb nach der Methode des Betätigungsvergleichs bemessen.
    Eine Mitarbeiterin des Abklärungsdienstes der IV-Stelle kommt bei Frau S zu Hause vorbei und ermittelt die Arbeitsfähigkeit von Frau S in den verschiedenen Haushaltsbereichen (Einkauf, Ernährung, Wohnungspflege, Wäsche, Kinderbetreuung und verschiedene andere Tätigkeiten) anhand eines Fragebogens. Sie gelangt zu einem Invaliditätsgrad von 54%, weshalb Frau S eine entsprechende IV-Rente erhält.

    Der Invaliditätsgrad ist bei Haushaltführenden oft erheblich geringer als bei Erwerbstätigen. Dies liegt daran, dass sich Haushaltführende – zumindest wenn sie nicht Kleinkinder betreuen müssen – ihre Zeit einteilen und Pausen einlegen können. Hinzu kommt, dass den jugendlichen und erwachsenen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern zugemutet wird, einen Teil der Haushaltstätigkeit im Rahmen der Schadenminderungspflicht selber zu übernehmen und die gesundheitlich beeinträchtigte Person zu entlasten.

    Die gemischte Methode

    Die gemischte Methode kommt bei all jenen Personen zur Anwendung, die ohne ihre gesundheitliche Beeinträchtigung teilweise erwerbstätig wären und daneben in einem anerkannten Aufgabenbereich tätig wären. Bei dieser Methode werden die Methode des Einkommensvergleichs und die Methode des Betätigungsvergleichs zur Bemessung des Invaliditätsgrades kombiniert.

    In einem ersten Schritt wird der mutmassliche Prozentsatz der Erwerbstätigkeit ermittelt (z.B. Arbeitspensum von 60%). Die Differenz zwischen diesem Prozentsatz und 100% ergibt den Anteil der Tätigkeit im Aufgabenbereich (z.B. 40%). In einem zweiten Schritt wird die Invalidität in jedem der beiden Bereiche – also sowohl im Erwerbsbereich als auch im Aufgabenbereich – nach der jeweiligen Bemessungsmethode separat ermittelt, gewichtet und zusammengezählt. Dis ergibt dann den Invaliditätsgrad.

    Wichtig zu wissen: Im Erwerbsbereich wird das zumutbare Invalideneinkommen mit dem auf eine 100%-ige Tätigkeit hochgerechneten Valideneinkommen verglichen. Der sich daraus ergebende (Teil-)Invaliditätsgrad wird dann mit dem Prozentsatz der Teilerwerbstätigkeit gewichtet.

    Beispiel

    Frau H, Mutter eines 8-jährigen Kindes, gibt im Gespräch mit der Abklärungsperson der IV glaubwürdig an, dass sie ohne ihre psychische Beeinträchtigung einer 60%-Erwerbstätigkeit als Lehrerin nachgehen würde. Frau H wird deshalb von der IV zu 60% als Erwerbstätige eingestuft und zu 40% als Haushaltführende. Nach Ansicht der Ärztinnen und Ärzte ist Frau H nicht mehr in der Lage, als Lehrerin zu arbeiten, könnte in einer angepassten Tätigkeit jedoch noch zu 50% tätig sein und dabei die Hälfte desjenigen Einkommens erzielen, das sie als Lehrerin in einem 100%-Pensum verdienen würde. Der Einkommensvergleich ergibt somit eine Erwerbseinbusse von 50%. Bei der Haushaltführung und Betreuung des Kindes ist Frau H gemäss den Erhebungen des IV-Abklärungsdienstes zu 25% eingeschränkt. Der Invaliditätsgrad wird in diesem Fall wie folgt bemessen:

    Anteil Erwerbstätigkeit 60%
    Invalidität in diesem Bereich 50%
    Gewichtete Invalidität (50% von 60%) 30%

    Anteil Haushaltsführung 40%
    Invalidität in diesem Bereich 25%
    Gewichtete Invalidität (25% von 40%) 10%

    Invaliditätsgrad total 40%  (30% + 10%)

    Bei Frau H resultiert also ein Invaliditätsgrad von 40% und somit Anspruch auf eine 25%-Rente.

    Medizinische Beurteilung, berufliche Abklärung und Haushaltabklärung

    Wie bereits weiter oben erwähnt, ist für die Invaliditätsbemessung in erster Linie die medizinische Einschätzung massgebend. Die Ärztinnen und Ärzte haben sich dazu zu äussern, ob und wie weit die Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit eingeschränkt ist und welche andere angepasste Tätigkeit einer Person in welchem Ausmass und unter welchen Einschränkungen noch möglich und zumutbar ist.

    Die Sozialversicherer holen zu diesem Zweck bei den behandelnden Ärzten und Ärztinnen Berichte ein, stützen sich aber kaum noch ausschliesslich auf diese Berichte, sondern überlassen die medizinische Beurteilung ihren ärztlichen Diensten (Regionale ärztliche Dienste RAD in der IV, kreisärztliche Dienste bei der SUVA usw.). Diese ärztlichen Dienste können aufgrund der vorliegenden Akten entscheiden oder selber eine Untersuchung durchführen und gestützt darauf eine Einschätzung vornehmen. Halten die ärztlichen Dienste eine externe Begutachtung für nötig, so veranlassen die Sozialversicherer je nach Bedarf eine monodisziplinäre, bidisziplinäre oder polydisziplinäre Begutachtung.

    Beispiel

    Herr W leidet an Rückenbeschwerden, Schulterbeschwerden, an einer Hypertonie sowie an Persönlichkeits- und Angststörungen. Der RAD der IV gelangt zum Ergebnis, dass zur Ermittlung der Arbeitsfähigkeit in diesem Fall ein polydisziplinäres Gutachten anzuordnen ist.
    Polydisziplinäre Gutachten werden in der IV durch spezielle medizinische Abklärungsstellen durchgeführt. Die Wahl der Abklärungsstelle erfolgt nach dem Zufallsprinzip und kann in der Regel nicht angefochten werden.
    Im Fall von Herrn W gelangen die Ärztinnen und Ärzte der Abklärungsstelle in ihrem Gutachten zum Ergebnis, dass Herrn W eine angepasste leichte Tätigkeit im Umfang von 50% zuzumuten ist und dass er in einer solchen Tätigkeit noch eine Leistung von 80% erbringen könnte. Wenn das Gutachten der Abklärungsstelle schlüssig ist (was in der Regel angenommen wird), wird sich die IV-Stelle darauf abstützen. Für Herrn W ist es praktisch nur dann möglich, diese Schlussfolgerungen in Zweifel zu ziehen, wenn er mit detaillierten und gut begründeten Stellungnahmen der behandelnden Ärztinnen und Ärzte erhebliche Zweifel am gutachterlichen Ergebnis auszulösen vermag.

    Es kommt relativ oft vor, dass die medizinischen Einschätzungen den Ergebnissen zuvor durchgeführter beruflicher Abklärungen widersprechen. Die ärztlichen Dienste und Gutachter sind verpflichtet, diese Ergebnisse zu berücksichtigen. Wollen sie die Arbeitsfähigkeit in Abweichung davon festlegen, so haben sie dies detailliert zu begründen.

    Beispiel

    Nachdem Herr D seine Stelle als Schreiner aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, hat die IV-Stelle eine berufliche Abklärung in einer Eingliederungsstätte veranlasst. Dabei hat sich gezeigt, dass Herr D auch in einer einfachen Serientätigkeit nur noch eine Leistung von 40-50% erbringen konnte.
    Wollen die Gutachterinnen und Gutachter die Arbeitsfähigkeit in Abweichung von diesen beruflichen Ergebnissen festlegen, müssen sie dies überzeugend begründen können. Denkbar wäre beispielsweise, dass Herr D nicht mit voller Motivation bei der beruflichen Abklärung mitgewirkt hat oder dass andere invaliditätsfremde Gründe die Leistung reduziert haben.

    Sobald die medizinischen Schlussfolgerungen der Ärzte und Ärztinnen vorliegen, ist es Aufgabe der Sachbearbeitenden der IV oder der Unfallversicherung, den Invaliditätsgrad nach der jeweils massgebenden Methode zu ermitteln. In der Invalidenversicherung wird diese Aufgabe bei Personen, die ohne gesundheitliche Beeinträchtigung nur teilweise erwerbstätig wären und bei denen die Methode des Betätigungsvergleichs oder die gemischte Methode zur Anwendung gelangt, an spezialisierte Abklärungsdienste delegiert. Dasselbe geschieht, wenn bei Selbständigerwerbenden die Invalidität zu bemessen ist. Die Abklärungsdienste führen Hausbesuche durch und halten ihre Schlussfolgerungen in einem umfassenden Bericht fest. Auch zu diesen Berichten kann kritisch Stellung genommen werden. Die IV-Stellen und Gerichte sind allerdings in der Regel nur bereit, von den Empfehlungen der Abklärungsdienste abzuweichen, wenn erhebliche Fehleinschätzungen überzeugend nachgewiesen werden können.

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