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Gemeinsame Erklärung: Bundesgerichts-Sitzung zur Invalidenversicherung

Das Bundesgericht verhandelt am 17.11.2021 einen Fall im Bereich des Sozialversicherungsrechts, welcher von grösster Tragweite für sämtliche versicherten Personen in der Schweiz ist und damit potentiell alle Bürgerinnen und Bürger betrifft (8C_256/2021).

Im Kern geht es darum, welches hypothetisch erzielbare Einkommen (sog. Invalideneinkommen) die IV einer Person mit Behinderung anrechnen darf oder anders gesagt: Wieviel kann eine Person trotz gesundheitlicher Einschränkung noch verdienen. Im Hinblick auf die öffentliche Urteilsberatung des Bundesgerichts weisen Organisationen von Menschen mit Behinderungen sowie der Verband für Versicherte «Versicherte Schweiz» und die Gewerkschaften mit der vorliegenden Medienmitteilung mit Nachdruck auf die unhaltbare Praxis diesbezüglich hin: 

Bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades geht die bisherige Praxis davon aus, dass das sog. Invalideneinkommen anhand des Medianlohnes der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) zu ermitteln ist. Diese Erhebung wird vorwiegend anhand der Löhne von Personen ohne gesundheitliche Einschränkungen vom Bundesamt für Statistik erstellt. 2018 lag der monatliche Medianlohn für Männer in einfachen Tätigkeiten körperlicher oder handwerklicher Art bei Fr. 5'417 pro Monat, basierend auf einer 40h Woche. Dies entsprach im Jahr 2020 etwa einem Jahreslohn von Fr. 69'000.[1] Im Jahre 2021 konnte durch die BASS Studie sowie durch ein Rechtsgutachten von Gächter/Egli/Meier/Filippo erstmals nachgewiesen werden, was Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen tatsächlich verdienen können. Dabei konnte eindeutig festgestellt werden, dass erwerbstätige IV-Rentnerinnen und Rentner rund 14 - 17% weniger verdienen, als die auf der LSE basierenden Medianlöhne. Als Fazit kommen die Experten zum Ergebnis, dass im Sozialversicherungsbereich nicht länger auf den Medianwert abgestellt werden darf, sondern in Zukunft das untere Quartil der LSE massgebend sein soll oder aber ein genereller Abschlag von 15% vorzunehmen sei.[2]

Mit anderen Worten wurden in den vergangenen Jahren regelmässig Löhne angenommen, welche eine gesundheitlich beeinträchtigte Person unmöglich erzielen kann. Dies hat zu entsprechend tiefen Invaliditätsgraden und Leistungsverweigerungen geführt. Die unterzeichnenden Organisationen der Medienmitteilung sind der Auffassung, dass an der jetzigen Praxis aufgrund der neuen Erkenntnisse nicht mehr länger festgehalten werden darf. Sie diskriminiert nicht nur Geringverdiener, sondern sehr viele Personen, die irgendwann einmal auf Leistungen der IV angewiesen sind. Sie führt nicht nur zur Verweigerung von existenzsichernden Rentenleistungen, sondern schliesst Menschen mit Beeinträchtigungen auch von beruflichen Massnahmen aus, da auch hierfür ein Mindest-IV-Grad von 20% vorausgesetzt wird. Damit verhindert die bisherige Praxis auch ein wichtiges Ziel der IV: Die Eingliederung von Menschen mit Behinderung. Die unterzeichnenden Organisationen sind der Auffassung, dass die bisherige Praxis des Bundesgerichts, aber auch die per 1.1.2022 in Kraft tretende Verordnung über die Invalidenversicherung, welche die Medianlöhne als massgebend bezeichnet, aufgrund der neuen Erkenntnisse nicht haltbar sind. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Vorgehensweise mit der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar sein soll.

[1] Vgl. LSE TA1_tirage_skill_level, privater Sektor, Schweiz. (Fr 5'417 x 12) : 40h x 41.7h : 101.6 x 103.4 = Fr. 68'967.
[2] Vgl. BASS Studie IV sowie Gutachten Gächter et al S. 69; beide Gutachten können hier runtergeladen werden: https://www.wesym.ch/de/medien

Kontakt

Philipp Schüepp

philipp.schuepp@proinfirmis.ch

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