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Fallbeispiel: Gianluca - Ein Wirbelwind im Sturmtief

Aufgeregt kommt Gianluca ins Wohnzimmer gerannt. Wild wedelt er mit seinem Plüsch-Dino durch die Luft. «Dieser Dino ist seit meiner ersten Operation an meiner Seite. Er ist darum mein absolutes Lieblingstier», erzählt der Zehnjährige aus dem Kanton Thurgau, der in seinem jungen Leben wohl schon mehr als manche und mancher Erwachsenen durchmachen musste. Doch der Reihe nach.

«Alles begann am 17. Juni 2018», fängt Mutter Sara zu erzählen an. «Gianluca fühlte sich schon ein paar Tage nicht wohl. Wir waren deswegen mit ihm schon beim Kinderarzt. Doch alle Untersuchungen, die damals durchgeführt wurden, waren unauffällig. An diesem Sonntag aber spürte ich, dass etwas mit unserem Sohn nicht stimmen konnte. Gianluca mochte nicht essen, nicht reden, war total matt und abgeschlagen und hatte komische Schwellungen im Gesicht.» Die Eltern entschieden, mit Gianluca in die Notaufnahme des Kinderspitals St. Gallen zu fahren. Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellte.

Beginn einer Odyssee

«Die Ärztinnen und Ärzte untersuchten Gianluca. Mittlerweile hatte er Mühe mit Atmen, bekam nur schwer Luft», erzählt Sara. Beim Röntgen der Brust schliesslich, entdeckte man die Ursache: Gianluca hatte ein Lymphom im Brustbereich. Krebs. Sofort wurde Gianluca auf die Onkologieabteilung verlegt. Am darauffolgenden Tag verschlechterte sich sein Zustand so massiv, dass Gianluca zu ersticken drohte. «Die Ärzte sagten uns damals, dass wenn wir nur einen Tag später ins Spital gekommen wären, unser Bub vermutlich nicht überlebt hätte», fährt Vater Stefano fort.

Gianluca verbrachte rund drei Wochen im Krankenhaus. Während dieser Zeit musste er unzählige Untersuchungen und mehrere Operationen über sich ergehen lassen sowie mit der lebensrettenden Chemotherapie beginnen. Als wäre dies nicht genug, folgte kurz vor Ende der Chemo eine weitere Hiobsbotschaft: Gianluca hatte sich einen Infekt eingefangen. Nicht irgendeinen. Er hatte sich mit einem resistenten Krankenhauskeim angesteckt, der im Körper des damals Sechsjährigen zu einer schweren Blutvergiftung führte. Eine lebensbedrohliche Situation, vor allem für jemanden, dessen Immunsystem aufgrund einer Chemotherapie bereits akut geschwächt war.

Gianluca kämpfte, blieb tapfer. Doch es ging ihm immer schlechter. Sein Bauch schwoll stark an. So stark, dass die behandelnden Ärztinnen und Ärzte den Verdacht hatten, sein Darm könnte perforiert sein. Lebensgefahr. Da das Röntgenbild kein eindeutiges Resultat lieferte, blieb nichts anderes übrig, als Gianlucas Bauch zu öffnen. Zum Glück konnte die Ärzteschaft kurz darauf Entwarnung geben – Befund negativ. Gianlucas Darm war intakt, aber stark entzündet. Sara und Stefano durften endlich wieder zu ihrem Sohn auf die Intensivstation. Stefano wischt sich eine Träne aus dem Gesicht: «Überall in Gianluca steckten Schläuche, er hatte eine Atemmaske im Gesicht und zitterte am ganzen Körper. Das eigene Kind so zu sehen … da fehlen einem die Worte.» Doch Gianlucas Darm schwoll weiter an und begann, auf die anderen Organe zu drücken. Erneut musste sein Bauch geöffnet werden. Diesmal liess man ihn offen. Drei Wochen lang. Fünf weitere Operationen folgten, bis sich Gianlucas Darm langsam beruhigte. Der Junge war fürs Erste über den Berg. Leider nur fürs Erste.

Denn Gianluca war so geschwächt, dass sein Immunsystem überreagierte. Sein Körper spielte verrückt. Die Leber schwoll an, die Lunge machte Probleme, der Blutdruck sackte in den Keller. Nichts mehr funktionierte so, wie es sollte. «Was wir mit unserem Sohn erleben mussten, das wünscht man niemandem», meint Stefano nachdenklich.

Epi-Anfall ohne Ende

Dann folgte der nächste Schock. Während Stefano und Gianluca auf dem Spitalbett «Uno» spielten, begannen die Augen von Gianluca zu flackern und zu zittern. Er hatte einen epileptischen Anfall erlitten. Das Problem: Dieser hörte und hörte nicht auf. Das notfallmässig durchgeführte Schädel-CT zeigte einen auffälligen Fleck. Verdacht auf Schlaganfall. Bei einem Sechsjährigen. Mit dem Helikopter wurde Gianluca – noch immer krampfend - nach Zürich ins Kinderspital geflogen. Die letzte Chance, den seit Stunden anhaltenden Anfall zu unterbinden, war ein Medikament, dessen Verabreichung mit gravierenden Risiken verbunden war. «Bei mir war in dem Moment irgendwie Schluss», erzählt die Mutter von den dramatischen Stunden. «Ich war seit dem ersten Tag im Spital immer an Gianlucas Seite. Wir haben so viel zusammen durchgemacht. Aber jetzt, hier, in dieser Situation, das war irgendwie nicht mehr mein Kind. Ich glaube, meine Psyche hat an dem Punkt nicht mehr mitgemacht, hat gestreikt. Es ging nicht mehr.»

Nach 15 unendlich langen Stunden gelang es schliesslich, Gianlucas epileptischen Anfall zu stoppen. Er hatte überlebt. Aber wie? Das konnte in dem Moment noch niemand sagen. «Als man Gianluca aus dem künstlichen Koma geholt und den Beatmungsschlauch entfernt hatte, hat er einmal ‘Mama’ gesagt», erinnert sich Sara. « Danach hat er fünf Wochen lang kein Wort gesprochen.»

Bleibende Veränderung

Gianluca erholte sich langsam von dem Erlebten. Zuerst ging es für den Kindergärtler zurück ins Spital nach St. Gallen, wo er erst einmal die Chemotherapie abschliessen und einen Medikamentenentzug durchmachen musste. Dann folgte ein mehrmonatiger Aufenthalt in der Reha-Klinik, in der Gianluca alles wieder von null auf lernen musste – sprechen, essen, gehen. Alles.

Während sich Gianluca zurück ins Leben kämpfte, forschten die Ärztinnen und Ärzte an der Ursache für seinen Anfall. Es stellte sich heraus, dass es beim Gehirn – wie bei den anderen Organen auch – die Autoimmunreaktion war, die Gianlucas Hirn angegriffen und den epileptischen Anfall ausgelöst hatte.

Mittlerweile sind mehr als drei Jahre vergangen. Gianluca hat sich gut erholt. Der Krebs scheint verschwunden. Die Autoimmunreaktion und der gewaltige epileptische Anfall jedoch haben bleibende Spuren in Gianlucas Hirn hinterlassen, und zu einer linksseitigen Hirnschrumpfung geführt. Diese beeinflusst das Verhalten und auch das Wesen des Jungen. Denn in diesen Hirnregionen werden die Handlungsplanung, das emotionale Verhalten sowie die Sprache gesteuert. Gianluca sei heute ein anderer, als er vor diesen Ereignissen gewesen sei, erzählt Mutter Sara. «Ich musste lernen loszulassen – den früheren Gianluca, das alte Leben, mein altes Leben. Das war ein Prozess. Und ist es immer noch. Doch in erster Linie sind wir einfach nur dankbar, dass Gianluca noch bei uns ist.»

Licht am Horizont

Und noch jemand ist seit kurzem bei Gianluca und seiner Familie. «Endlich habe ich einen kleinen Bruder, auf den ich aufpassen kann», strahlt Gianluca und knuddelt den schwarzen Labrador-Junghund. Sammy, so sein Name, ist in der Ausbildung zum Epilepsie-Begleithund, auch EpiDog genannt. Für Gianluca ist Sammy in erster Linie sein bedingungsloser bester Freund, der immer zu ihm hält, egal wie es ihm geht. Für die Eltern ist Sammy eine grosse Stütze im Alltag. Er zeigt epileptische Anfälle an, bevor diese kommen. Und während eines Anfalls bleibt Sammy bei Gianluca und holt ihn durch Lecken der Gesichts- oder anderer Körperpartien schneller aus dem Anfall. «Bereits drei Wochen nachdem Sammy als kleiner Welpe zu uns gekommen war, weckte er uns eines Nachts, um uns auf einen drohenden Anfall aufmerksam zu machen», erzählt Vater Stefano. «Sammy legte sich zu Gianluca und leckte ihm die Hand 15 Minuten lang. Kurz darauf kam der Anfall. Sammy hat das gespürt, einfach unglaublich.» 

Die epileptischen Anfälle begleiten Gianluca wohl für den Rest seines Lebens. Täglich muss er Medikamente schlucken, um die Anfälle möglichst in Schach zu halten. «Im Moment befindet sich Gianluca in einer guten Phase», meint Mutter Sara. «Sein letzter Anfall liegt fast zehn Tage zurück. So lange anfallfrei war er schon lange nicht mehr. Es gab und gibt Zeiten, da krampft er mehrmals am Tag.»

Gianluca realisiere, dass die Erlebnisse und Ereignisse der letzten Jahre ihn verändert haben, so seine Eltern. Er sei sich bewusst, dass er früher zum Beispiel besser habe reden können. Oder dass er in den öffentlichen Kindergarten gegangen sei. Das ist heute aufgrund seiner Epilepsie, aber auch aufgrund seiner durch die Hirnschrumpfung verursachten kognitiven und emotionalen Schwierigkeiten nicht mehr möglich, weshalb Gianluca eine heilpädagogische Schule in der Umgebung besucht.

«Während dieser ganzen Zeit, konnten wir uns mit Fragen aller Art stets an Frau W. von der Sozialberatungsstelle der Pro Infirmis in Amriswil wenden. Sie hat uns immer weiterhelfen können», sagt Sara dankbar. Und Stefano ergänzt: «Die Situation war nicht nur emotional eine gewaltige Herausforderung, sondern auch administrativ. Hat man bei dem ganzen Papierkrieg mit IV, Krankenkasse etc. nicht die richtige Unterstützung, ist man ziemlich rasch verloren. Für die geleistete Hilfe und alles, was noch kommt, möchten wir uns an dieser Stelle von ganzem Herzen bedanken.»

Dann gibt Sammy zu verstehen, dass es an der Zeit ist, Gassi zu gehen. Mit Dino, Hund und Gokart fährt Gianluca strahlend davon. Hoffentlich in eine unbelastetere Zukunft.

Voller Zuversicht voraus: Gianluca lässt sich von seinen Einschränkungen nicht aufhalten.

«Als man Gianluca aus dem künstlichen Koma geholt hatte, hat er einmal ‘Mama’ gesagt. Danach hat er fünf Wochen lang kein Wort gesprochen.»

Sara, Mutter von Gianluca

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