Selbstbestimmtes Wohnen: Positionen und Forderungen
Mehr als die Hälfte der Menschen mit Behinderungen sind mit der eigenen Wohnsituation unzufrieden, können sie aber nicht ändern. Im Einklang mit der Inklusions-Initiative fordert Pro Infirmis, das Recht auf selbstbestimmtes Wohnen gesetzlich zu verankern.
Die Wohnsituation ist entscheidend für unser Wohlbefinden, unsere sozialen Kontakte und damit unsere Lebensqualität. Deshalb sollten alle Menschen frei wählen können, wo, wie und mit wem sie wohnen – und in welcher Form sie dabei unterstützt werden.
Bei Menschen mit Behinderungen ist diese Wahlfreiheit oft nicht gegeben, wie der Inklusionsindex 2023 von Pro Infirmis zeigt: Jeder zweite Mensch mit Behinderungen ist mit seiner Wohnsituation unzufrieden. Teils können die Betroffenen nicht einmal selbst entscheiden, in welchem Kanton sie wohnen, was sie essen oder wann sie schlafen. Der Wunsch nach einem Wechsel bleibt meist unerfüllt, da es an notwendigen Assistenzleistungen und/oder ambulanter Betreuungsfinanzierung sowie barrierefreiem Wohnraum fehlt.
Im Detail unterscheidet sich die Situation von Kanton zu Kanton, einige setzen stärker auf Selbstbestimmung als andere. Aber es gibt schweizweite Tendenzen, allen voran der vielerorts immer noch starke Fokus auf Wohnheime. Sie sind gesetzlich verankert und finanziert, zudem gehen sie auf eine lange Tradition der Fürsorge zurück.
Für die Gesellschaft sind Wohnheime die einfachste Lösung – und für Menschen mit Behinderungen oft die einzige Option. Von der Idealvorstellung, einer in allen Bereichen inklusiven Gesellschaft, ist die Schweiz noch weit entfernt.
Forderungen und politische Initiativen
Um auch im Bereich Wohnen echte Wahlfreiheit und Inklusion zu ermöglichen, muss die Schweiz die politischen Rahmenbedingungen für Menschen mit Behinderungen verbessern. Heute regelt der Bund einzig, dass die Kantone Wohnheime bereitstellen müssen.
Es gibt jedoch verschiedene Bestrebungen, dies zu ändern. Etwa durch die von National- und Ständerat angenommene Motion 24.3003 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats. Sie fordert «gleiche Wahlmöglichkeiten und entsprechende Unterstützung für Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen».
Weiter geht die UNO-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die von der Schweiz bereits 2014 ratifiziert wurde. Sie verlangt, dass selbstbestimmtes Wohnen, wenn möglich und erwünscht, die erste Option ist. Diese Wahlfreiheit fordert auch die Inklusions-Initiative, die im September 2024 mit 107'910 gültigen Unterschriften eingereicht wurde.
Die Inklusions-Initiative will die Selbstbestimmung – nebst der grundsätzlichen Gleichstellung in allen Lebensbereichen – in der Verfassung verankern. Artikel 8a der Bundesverfassung, der momentan einzig «Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten» vorsieht, soll künftig folgende Formulierung enthalten: «Menschen mit Behinderungen haben das Recht, ihre Wohnform und den Ort, an dem sie wohnen, frei zu wählen; sie haben im Rahmen der Verhältnismässigkeit Anspruch auf die dafür erforderlichen Unterstützungs- und Anpassungsmassnahmen.» Die Inklusions-Initiative deckt sich mit den Forderungen von Pro Infirmis, weshalb wir sie aktiv unterstützen. Der Bundesrat lehnt die Inklusions-Initiative ab. Stattdessen möchte er mit einem indirekten Gegenvorschlag ein Inklusionsrahmengesetz mit Fokus Wohnen erarbeiten. Für Pro Infirmis ist klar, dass ein Gegenvorschlag nur akzeptabel ist, wenn er über die Gleichstellung von selbstbestimmtem und institutionellem Wohnen hinausgeht. Der Zugang zu Assistenzleistung und Wohnkursen muss gesetzlich garantiert sein. Dasselbe gilt für die Bereitstellung von ausreichend barrierefreiem Wohnraum.
Dass Inklusion möglich ist, zeigt das Beispiel Schweden, wo klassische Wohnheime schon vor Jahrzehnten abgeschafft wurden. Das schwedische Modell setzt auf betreute Gruppenwohnungen und individuelle Wohnformen mit den dafür notwendigen Assistenzleistungen.
Angebote von Pro Infirmis zum Thema Wohnen
Pro Infirmis bietet zahlreiche Dienstleistungen im Bereich selbstbestimmtes Wohnen, um die Lücken im Wohnangebot für Menschen mit Behinderungen zu schliessen.
Etwa mit Assistenzberatungen, die Hilfestellung bezüglich Finanzierung, Einstellung und Planung verschiedener Assistenzleistungen bieten. Oder mit dem Angebot «Begleitetes Wohnen», das Menschen mit Behinderungen in ihrer Wohnung bei alltäglichen Angelegenheiten unterstützt. Diese Angebote bestehen in allen Kantonen.
In mehreren Kantonen bietet Pro Infirmis Wohnschulen an, die Menschen mit Behinderungen zwischen 18 bis 65 Jahre die Möglichkeit geben, selbstbestimmtes Wohnen auszuprobieren und zu lernen. Das Wohnungssuche-Coaching wiederum hilft bei der Suche nach einer geeigneten Wohnung und bei den notwendigen Formalitäten.
Sämtliche Dienstleistungen finden Sie auf unserer Website.
Zeitplan und Unterstützungsmöglichkeiten
Gemäss aktuellem Zeitplan kommt die Inklusions-Initiative zwischen 2026 und 2028 zur Abstimmung. Aber auch im Fall einer Annahme wird es seine Zeit dauern, bis die Änderungen die erwünschte Wirkung zeigen. Bis dahin wird sich Pro Infirmis weiterhin auf allen Ebenen dafür einsetzen, die Situation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Dabei können wir Ihre Unterstützung gebrauchen – die Möglichkeiten sind zahlreich.
Zum Beispiel, indem Sie Menschen mit Behinderungen auf das umfassende Wohnangebot von Pro Infirmis hinweisen. Oder indem Sie Freunde und Bekannte auf das Thema selbstbestimmtes Wohnen und die Lücken in der Bundesverfassung aufmerksam machen.
Was ebenfalls hilft, ist mehr Sichtbarkeit. Zum Beispiel, indem Sie Pro Infirmis den sozialen Medien folgen und unsere Beiträge liken und teilen. Sie finden uns auf Facebook, Instagram, YouTube und Linkedin.
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