Fallbeispiel: Geniessen, was heute noch geht
«Dum-chacha-dum-chacha…» Ainara (7) sitzt in ihrem Rollstuhl, verteilt Luftküsse und schlenkert mit den Armen zum Rhythmus ihrer Lieblingsmusik. Denn das Tanzen liebt die Kleine noch immer – auch wenn das mittlerweile nicht mehr so geht, wie noch vor ein paar Jahren. Aufgrund eines Gen-Defekts verlernt Ainara nach und nach alles, was sie schon mal konnte. Umso wichtiger ist es, das zu geniessen, was heute noch geht.
«Que me quieres decir?» – «Was willst du mir denn sagen?», fragt Elizabeth S. ihre kleine Tochter, die sie aufmerksam anschaut. Ainara antwortet mit Gurgellauten und ihre Augen wandern auffordernd hin und her. Daraufhin rückt ihr die Mama liebevoll das Halstuch zurecht. Sie verstehen sich, auch ohne Worte. Dabei konnte Ainara bereits sprechen, doch das ist lange her. Um die heutige Situation der Familie zu verstehen, müssen wir kurz in die Vergangenheit reisen. Genauer ins Jahr 2017. Denn hier passierte ein kleines Wunder. Nach zwei Buben und einer langen Pause wurde Elizabeth S. noch einmal schwanger - mit einem Mädchen. Für die Eltern, die sich von Herzen noch eine kleine Prinzessin gewünscht haben, wurde damit ein Traum wahr. Ainara war ein aufgewecktes Kleinkind und konnte bereits mit neun Monaten laufen. «An ihrem ersten Geburtstag tanzte und lachte sie aus vollem Herzen», erinnert sich die Mutter wehmütig und wischt Ainara sanft den Mund ab. Nichts deutete damals darauf hin, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte.
Erste Risse im Familienidyll
Nach dem Umzug von der Dominikanischen Republik in die Schweiz, besuchte Ainara 2019 die Krippe. Dort erhielt das unbeschwerte Familienleben erste Risse. Eine Betreuerin macht Elizabeth S. und Blaiber C. auf eine verzögerte Entwicklung aufmerksam. Die Abklärung brachte jedoch keine klaren Ergebnisse und so klammerten sich die Eltern an die Hoffnung, dass doch alles gut sei, ihr Mädchen einfach etwas mehr Zeit braucht.
Ein Jahr später zerschlug sich aber auch diese Hoffnung. 2020 hatte Ainara erste epileptische Anfälle. «Sie verdrehte sekundenlang die Augen und schien komplett abwesend zu sein», erzählt Papa Blaiber. Und die Mutter ergänzt: «Dazwischen war unsere Prinzessin aber fit, tanzte und lachte, wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter.» Ein Gentest brachte dann die schreckliche Gewissheit: Neuronale Ceroid-Lipofuszinose, kurz NCL. Hinter diesem kryptischen Namen steckt eine unheilbare Krankheit, bei der sich die Betroffenen quasi zurückentwickeln. Sie verlernen nach und nach alles.
Zu diesem Schock kam für Elizabeth S. und Blaiber C. die Sorge, um die beiden Söhne, denn NCL entsteht durch eine unglückliche Genkombination der Eltern. Es ist also möglich, dass auch Ainaras Brüder betroffen sind und bislang einfach keine Symptome aufweisen. Getestet wurden sie auf Anraten der Ärzte aber nicht, da es aktuell schlicht keine erprobte Behandlung für NCL gibt. Eine Diagnose würde also, Stand heute, nichts an der Situation ändern. Der Familie bleibt somit nichts weiter übrig, als zu hoffen und positiv zu bleiben.
Eine besondere Begegnung
Spätestens ab dem Zeitpunkt der Diagnose musste sich die ganze Familie endgültig von ihrem bisherigen Leben verabschieden. Und auch wenn Mama, Papa und die beiden Brüder alles versuchen, um Ainara in den Familienalltag zu integrieren, macht sich das fehlerhafte Gen immer stärker bemerkbar. «Wenn ich zurückschaue, was Ainara früher alles konnte, bricht es mir das Herz», sagt Mama Elizabeth den Tränen nahe. Und ergänzt: «Deshalb gehe ich nicht gerne auf den Spielplatz, wenn dort andere Kinder spielen. Zu sehen, dass Ainara gerne mitmachen würde, aber nicht mehr kann, ist schwer. Sehr schwer.» Zu der Überforderung und dem Ohnmachtsgefühl kamen finanzielle Sorgen, denn Elizabeth S. und Blaiber C. müssen mit ihrem Einkommen gut haushalten. Schliesslich wissen die beiden, dass Ainara mit dem Fortschreiten von NCL immer mehr Unterstützung brauchen wird – sei es in der Schule oder im Alltag. Und das kostet. Mehr, als die Familie aufbringen kann.
2023. Ainara kann nicht mehr selbstständig laufen und ist daher auf den Rollstuhl angewiesen. Da ihr Wohnhaus über keinen Lift verfügt, muss dieser samt dem Mädchen jeden Tag die Treppen rauf und runtergetragen werden. Dass das nicht nur an die körperliche Substanz geht, ist klar. Und nun? Nun half der Zufall. Als Elizabeth S. gerade am Rande eines Nervenzusammenbruchs an einer Supermarktkasse stand, kam es zu einer filmreifen Szene. Eine unbekannte Frau kam auf sie und Ainara zu und tröstete die erschöpfte Mutter. Dann erzählte sie Elizabeth S. von Pro Infirmis. Einfach so. Mehr noch: Seit jenem Tag unterstützt diese Frau die Familie, wo sie nur kann. Ohne Gegenleistung und ohne Ausnahme. Für die Eltern ein weiteres kleines Wunder.
Unterstützung durch Pro Infirmis
In der Sozialberatung von Pro Infirmis bekamen Elizabeth S. und Blaiber C. was sie dringend gebraucht haben: das Gefühl nicht allein zu sein und eine Perspektive. Die Sozialarbeiterin Frau P. unterstützte sie beim Kontakt mit der IV und bei finanziellen Angelegenheiten. Und auch bei der Suche nach einer neuen Wohnung erhielt die Familie wertvolle Unterstützung. Die neue, helle Wohnung ist komplett barrierefrei und bietet genügend Platz für die 5-köpfige Familie. «Dafür sind wir Frau P. unglaublich dankbar», so Blaiber C. Auch Ainara blüht in der neuen Umgebung förmlich auf. Und noch etwas hat sich verändert: Sie besucht unter der Woche eine heilpädagogische Schule. Für das fröhliche Mädchen ist es immer ein Erlebnis, denn die Kleine liebt die Abwechslung und den Kontakt mit Menschen. Im Unterricht wird sie mit Ergo- und Logopädie individuell gefördert.
Angesprochen auf die Zukunft von Ainara ist sich die ganze Familie einig: Unabhängig von ihrem sich ständig ändernden Gesundheitszustand soll die 7-jährige ein möglichst glückliches und unbeschwertes Leben haben. Ausserdem müsse die Gesellschaft dringend mehr über diese tückische Krankheit erfahren. Nur wenn Neuronale Ceroid-Lipofuszinose in der Forschung ganz oben auf der Prioritätenliste steht, kann hoffentlich bald eine wirksame Therapie entwickelt werden, um den Verlauf von NCL zu verlangsamen oder gar zu stoppen.
Die Hoffnung nicht vergessen
Mittlerweile sind wir in der Gegenwart angekommen. Trotz wertvoller Unterstützung von Pro Infirmis und einer guten medizinischen Betreuung bleibt der Alltag für die Familie herausfordernd – besonders weil es keinen Alltag gibt. Die einzige Konstante ist Ainaras Abbau. Konnte sie gestern noch einen Ball halten und damit spielen, geht das heute schon nicht mehr. Manchmal passieren diese Schübe im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht. Da Ainara nicht mehr selbstständig sitzen kann und teilweise über eine Magensonde ernährt werden muss, übernehmen die Eltern ausserhalb der Schule die anstrengende Rundum-Betreuung am liebsten selbst. Sie wissen genau, was ihrer Kleinen guttut, und geben alles, um sie glücklich zu sehen. «Natürlich kostet die Pflege von Ainara viel Kraft, aber gleichzeitig gibt unser Mädchen auch so viel Liebe zurück.» sagt Mama Elizabeth S. und meint damit jene Momente, in denen ihre Tochter vollkommen präsent ist, «tanzt» und glücklich wirkt. Und ihr Mann ergänzt: «Ainara lebt im Moment und das versuchen wir auch. Nur wenn wir nicht zurückblicken, können wir als Familie stark bleiben.» Und für alle fünf ist klar: Aufgeben kommt nicht in Frage. Nunca, niemals.
«Ainara lebt im Moment und das versuchen wir auch.»