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Folge 2: Wohnen und Leben

Podcast Folge 1: Janine und Andrea

Janine erzählt, wie sie als Frau mit kognitiver Beeinträchtigung dafür kämpfen musste, zu ihrer eigenen Wohnung zu kommen. Dort lebt sie jetzt mit der Unterstützung des Begleiteten Wohnens von Pro Infirmis. Die 29-Jährige setzt sich für die Rechte für Menschen mit Behinderungen ein. Deshalb möchte sie ein Vorbild sein und ihre Hochzeit auf Youtube zeigen.

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Transkript: Die ganze Folge 1 zum Nachlesen

[Weibliche Stimme] Manchmal braucht es im Leben Unterstützung, wenn man nicht alles ganz alleine meistern kann. Weil Unterstützung ermöglicht Eigenständigkeit. 

[Janine] Ich schreibe jetzt einen Brief an die KESB und sage: Ich möchte gerne eine andere Beiständin, ich möchte niemanden, der mir zu viel dreinredet.

Das ist Janine. Sie ist 29 und hat eine kognitive Beeinträchtigung. Sie hat eine Lernschwäche. Sie ist eine von rund 1,7 Millionen Menschen in der Schweiz mit einer Beeinträchtigung. Dank dem Begleiteten Wohnen von Pro Infirmis kann sie alleine in ihrer 2 1/2 Zimmer-Wohnung leben. 

[Andrea] Ich komme und sie geben mir den Auftrag und ich unterstütze sie...

Das ist Andrea. Sie ist die Wohnbegleiterin. Die Sozialpädagogin trifft sich einmal pro Woche mit Janine. In diesem Podcast begleiten wir die zwei Frauen ein Stück auf ihrem Weg. Meine Wohnung, mein Leben: der Podcast zum Begleiteten Wohnen von Pro Infirmis.

[Cheyenne] Und meine Stimme hört ihr hier auch immer mal wieder. Ich bin Cheyenne und mache zusammen mit Janine und Andrea diesen Podcast. Sie haben zugestimmt, dass wir einen Einblick in ihren Alltag vom Begleiteten Wohnen erhalten. Und um herauszufinden, wie wir das am besten machen, haben wir uns ein paarmal getroffen und uns abgesprochen. Und dann sind wir ins Aufnahmestudio gegangen und ich habe Fragen gestellt, um zu verstehen, wie Janine zum Begleiteten Wohnen gekommen ist. In dieser ersten Podcast-Folge lernen wir die beiden Frauen und ihre Rolle in dieser Geschichte kennen. 

[Janine] Ich bin Janine Zobrist, ich wohne in Oberwinterthur in einer 2 1/2 Zimmer-Wohnung, ich habe die Wohnschule der Pro Infirmis gemacht und wohne jetzt seit 4 Jahren in der eigenen Wohnung. Ich habe eine Lernschwäche. Ich habe einfach Mühe mit Rechnen und beim Schreiben bin ich sehr langsam.

[Andrea] Ich bin Andrea Schnyder und da bin ich jetzt, weil ich im Begleiteten Wohnen von Pro Infirmis arbeite. Ich bin aber auch Ehefrau und Mutter von zwei Teenager, Haus und Garten, habe Freude an der Natur, am Lesen, natürlich an Menschen. Und da bin ich jetzt in meiner Aufgabe, die ich als Berufsfrau habe. Ich werde 48 in ein paar Tagen.

[Cheyenne] Janine ging als Kind in eine heilpädagogische Schule. Es war keine einfache Zeit für sie.

[Janine] Es hat schon in der Schule, als ich ein Kind war angefangen, dass man mir gesagt hat: Du kannst das nicht, du kannst das nicht, du bist... ich habe das so verstanden, als würde man mir sagen, ich sei dumm.

[Cheyenne] Nach der Schulzeit hat Janine für ein paar Jahre auf einem anthroposophischen Bauernhof gearbeitet und dort ähnliche Situationen erlebt.

[Janine] Eigentlich habe ich erst auf diesem Bauernhof gelernt, mich zu wehren. Die haben mich nicht ernst genommen, dass es mir dort nicht gefällt. Sie sind mir übers Maul gefahren und haben mich nicht ausreden lassen. Vor meiner jetzigen Beiständin habe ich eine Beiständin gehabt, die privat angestellt war und sie hat auch in einer solchen heilpädagogischen Schule gearbeitet und es war schwierig für mich, mich durchzusetzen. 

[Andrea] Von den Erzählungen habe ich in Erinnerung, dass sie ihnen auch ein Stück weit ihre Gesinnung übergestülpt hat. Bis an einen Punkt, wo Sie gesagt haben: jetzt geht es nicht mehr, jetzt ist genug. Jetzt stehe ich auf meinen Beinen und schaue für meine Rechte.

[Janine] Ja. Ja. Man hat mir gesagt: Ja, komm, es ist doch nicht so schlimm, und so. Dass ich meine Meinung nicht sagen durfte, das hat mich gestört.

[Andrea] Gellen Sie, das antroposophische Gedankengut war Ihnen überhaupt nicht nahe, oer?

[Janine] Nein, also, ich sage es jetzt für mich: Für mich war das alles Humbug. Dass man nicht einmal TV schauen darf und keinen eigenen Laptop und Fernseher im Zimmer haben darf. Und nur Radiosender hören, die sie unterstützen. 

[Andrea] Und dann war noch das Wohnen und Arbeiten zusammen...

[Janine] Ja, das Wohnen und Arbeiten war zusammen. Und sie hatten 24-Stunden-Betreuung. Vom Morgen um 8 Uhr bis abends um 10 Uhr. Für Erwachsene! 

[Andrea] Sie sind ja eine junge Frau, das muss man schon sagen...

[Janine] Ja! Dort hat man dann auch gesagt: Du kannst nie alleine Wohnen... du bist... man hat schon wieder gesagt, ich könne das nicht.

[Cheyenne] Dieses Mal hat sich Janine gewehrt. Sie wollte von diesem Bauernhof weg. Aber ihre Beiständin fand, sie solle dort bleiben. Deshalb wollte Janine eine neue Beiständin, eine, die sie unterstützt.

[Janine] Es war dann so, dass ich fand, ich schreibe jetzt einen Brief an die Kesb und sage ich möchte gerne eine andere Beiständin haben, ich möchte niemanden, der mir zu viel dreinredet. 

[Cheyenne] Das hat funktioniert. Janine hat eine neue Beiständin bekommen und mit ihrer Unterstützung konnte sie weg vom Bauernhof.

[Cheyenne] Ehrlich gesagt, als Aussenstehende, mich mag, was Janine erlebt hat. Ich versuche zu verstehen, wie ihr Leben verlaufen ist. Und ich habe mich im Gespräch auch nicht immer getraut, direkt nachzufragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe oder mich etwas vertieft interessiert hätte. Und ich habe gemerkt, dass ich mich zum Teil unsicher fühle im Umgang mit dem Thema Beeinträchtigung. 

[Cheyenne] Pro Infirmis ist eine Behindertenorganisation... aber wir haben schon einmal über das Wort Behinderung gesprochen. Bei Pro Infirmis kann man Hilfe haben, wenn man eine Beeinträchtigung hat.. oder wie sagst du es am liebsten, damit es respektvoll ist?

[Janine] Ich sage Beeinträchtigung. Es ist eine Organisation für Menschen mit Beeinträchtigung... also die Wohnschule ist eine Aktion von der Pro Infirmis, wo man lernt, selbständig zu wohnen.

[Cheyenne] Während zwei Jahren hat Janine die Wohnschule besucht und dort gelernt, einen Haushalt zu führen und noch viel mehr.

[Janine] Das wichtigste für mich ist, dass ich jetzt selber abstimmen kann. Das habe ich dort auch gemacht. In der Wohnschule gibt es auch verschiedene Lektionen zum Thema "wie gehe ich mit Konflikten um"?

[Cheyenne] Seit vier Jahren lebt Janine jetzt alleine in ihrer 2 1/2 Zimmer-Wohnung, das mit dem Angebot Begleitetes Wohnen von Pro Infirmis. Ihre Wohnbegleiterin ist eben Andrea. Andrea kommt einmal pro Woche vorbei. Euch ist es vielleicht aufgefallen: die beiden sind per Sie.

[Andrea] Als ich sie kennengelernt habe, habe ich sie gefragt, wie sie gerne möchten... nein, eigentlich muss ich so sagen: Von der Pro Infirmis her ist eigentlich die Weisung, dass ich sie sieze. Und weil wir ja eine Arbeitsbeziehung haben, macht das sehr wohl Sinn. Das ist ganz schwierig zu erklären. Es hat auch einen historischen Hintergrund... dass man früher Menschen mit einer Beeinträchtigung alle einfach geduzt hat, und sie mussten dann "Sie" sagen. Das hat ein ganz komisches Gefälle gegeben, das heute gar nicht mehr Zeitgemäss ist. Sie sollen ja selber entscheiden können, wie ich sie anspreche, oder? Das Bedingt aber auch, dass Sie mir "Sie" sagen, das ist das andere... 

[Janine] Ja, wir sind uns schon sehr nah, oder?

[Andrea] Ja, ich würde auch sagen. Über die eineinhalb Jahre. Und das war auch schnell so, da Sie ein sehr offener Mensch sind. Da habe ich Sie schon immer bewundert, wie sie schnell erzählt haben und mir auch ganz klar sagen konnten, wo Sie möchten, dass ich Sie unterstütze. Sie können es annehmen und umsetzen. Bei vielem mussten wir eigentlich gar nicht arbeiten, das hat sich schnell entwickelt, und so hat sich auch eine Nähe eingestellt. 

[Janine] Das ist so, ja.

[Cheyenne] Diese Wohnbegleitung ist also sehr etwas Persönliches, weil, wie man lebt, ist ja privat. Andrea unterstützt Janine in den verschiedensten Bereichen, sei es, wenn es ums Budget geht oder ums Haushalten. Wo Andrea unterstützt, das entscheidet Janine alleine.

[Andrea] Sie sind ja meine Auftraggeberin. Wenn sie mir nicht sagen "ich brauche Hilfe", ganz konkret, wie zum Beispiel beim entkalken des Hahnens, das ich ja auch nicht geschafft habe, leider, weil es so verhockt war, aber dann haben wir einen Lösungsweg gesucht miteinander. Wir sind schon auf alles zu Sprechen gekommen. 

[Janine] Genau!

[Andrea] Ganz klar, wir haben schon über Sexualität, Drogen und Alkohol gesprochen und allem, das sein kann. Und ich denke, das ist das schöne an der Beziehung. Ich kann Ihnen das Angebot machen und ich weiss, wenn Sie das Bedürfnis haben, fragen Sie mich, Sie können mich alles fragen.

[Cheyenne] Die beiden Frauen sind sehr offen miteinander und sie besprechen auch Sachen, die nicht so gut gelaufen sind. Zum Beispiel der Velo-Ausflug, der nicht so gelaufen ist, wie es sich Janine vorgestellt hat.

[Andrea] Mit dem Veloausflug, das ist jetzt etwas, wo ich mir Gedanken mache, wie kommt das mit der Planung heraus, wenn sie eine Familie haben?

[Janine] Mein Schatz hat gestern bei mir Abendgegessen, wir haben Spaghetti gegessen, dann wollten wir noch eine Velotour machen bis nach St. Gallen. Aber dann mussten wir in Sirnach die Velotour abbrechen, weil mir die Beine wehgetan haben... also die Fersen haben mir wehgetan.

[Andrea] Und es war zeitlich auch nicht ganz realistisch, wenn Ihr erst um sechs Uhr gegangen seid...

[Janine] Ja, und zeitlich war es auch nicht realistisch.

[Andrea] Wenn ich ehrlich bin, sind das die Momente, wo mir das in den Sinn kommt, wie wird das sein, wenn Sie eine Familie haben, ihr Kinderwunsch. Ihr Wunsch mit zwei Kindern und Haustieren... und ich weiss, dass da ganz viele planerische Sachen anstehen. Und da kommt dann in mir der Gedanke, dass sie da vielleicht Unterstützung und Hilfe brauchen werden. Sobald natürlich mehr Leute beteiligt sind als nur Sie und ihr Schatz, ist es anders... und das poppt dann bei mir auf, wenn Sie mir so etwas erzählen.

[Janine] Ich sagt dann nachher, ich hätte das vorher überlegen sollen. Das war nicht so gescheit von mir.

[Cheyenne] Macht es dich wütend, wenn [Andrea] so eine Rückmeldung gibt?

[Janine] Nein, ich bin eher auf mich selbst wütend, weil ich so etwas nicht im Voraus geplant habe.

[Cheyenne] Janine möchte also mal eine Familie. Im Moment plant sie ihre Hochzeit mit ihrem Verlobten. Und diese Hochzeit möchte sie öffentlich machen und auf Youtube zeigen.

[Janine] Es gibt ja viele Menschen mit Beeinträchtigungen, denen vielleicht diese Möglichkeit vorenthalten wird. Oder dass sie das gar nicht dürfen. Ich möchte zeigen, dass man unserer Gesellschaft sagt: Schaut, das sind zwei Menschen, die haben ihr Manko oder was auch immer... dass man sagen kann, dass Menschen mit Beeinträchtigungen auch ein Recht zu Heiraten haben. Wir haben auch unsere Bedürfnisse.

[Andrea] Und auch Grundrechte...

[Janine] Und auch Grundrechte! Das heisst, man kann sich mit uns nicht einfach alles erlauben.

[Cheyenne] Ich spüre bei Janine einen grossen Kampfwillen. Mich beeindrucken ihre klaren Worte und es macht mich auch irgendwie betroffen. Ich frage mich, wie reagiere ich eigentlich im Alltag auf Menschen, die eine Beeinträchtigung haben? Ich glaube, ich muss das mal beobachten, und die Begegnung mit Janine hilft mir. Janine ist es enorm wichtig, dass sie als Frau mit einer Beeinträchtigung ein voller Teil der Gesellschaft ist, dass sie selber entscheiden und selbständig Leben kann. Fast eine Stunde sind Janine, Andrea und ich im Studio gewesen und haben geredet. Nach den Studioaufnahmen sind wir zusammengesessen und haben uns parat gemacht für den nächsten Schritt in diesem Podcast. 

[Cheyenne] Hier kann man auf 'Record' drücken, dass es leuchtet, dann nimmt es einfach auf.

[Andrea] Ja...

[Cheyenne] Dann könnt ihre es einfach aufnehmen lassen....

[Janine und Andrea] Ja

[Cheyenne] Janine und Andrea haben das Aufnahmegerät mitgenommen und bei ihrem nächsten Treffen Zuhause wieder eingestellt.

[Janine] Es mir leid getan, weil ich fand, ich soll am Arbeitsplatz keine unnötigen Diskussionen anfangen. Ich wollte nur sagen, dass ich das problematisch finde, wenn Kinder bei zwei Vätern oder zwei Müttern aufwachsen. Aus dem ist dann eine Diskussion entstanden. Und dann hat es mir mega leid getan.

[Cheyenne] Was Janine und Andrea diskutiert haben, das hörst du in der nächsten Folge von "Meine Wohnung, mein Leben". Hast du eine Frage an Janine oder Andrea? Oder an Pro Infirmis? Hat dich dieser Podcast zum Nachdenken gebracht? Wir freuen uns auf dein Feedback. Am einfachsten per Mail an podcast@proinfirmis.ch. Ich bin Cheyenne und freue mich auf die nächste Folge.

Folge 2: Wohnen und Leben


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