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Folge 4: Liebe und Familie

Podcast Folge 5: Fragen und Antworten

Seit der Veröffentlichung der ersten vier Folgen sind ein paar Wochen vergangen. In letzten Folge dieser Staffel blicken Janine und Andrea zurück auf die Entstehung des Podcasts und beantworten Fragen, die aufgetaucht sind. Mit dabei ist diesmal auch Sidney Winteler, Koordinator des Begleiteten Wohnens von Pro Infirmis. Er erzählt, wie es um das selbstständige Wohnen für Menschen im Kanton Zürich steht.

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Transkript: Die ganze Folge 5 zum Nachlesen

[Weibliche Stimme] Manchmal braucht es im Leben Unterstützung, wenn man nicht alles ganz alleine meistern kann. Weil Unterstützung ermöglicht Eigenständigkeit. 

[Janine] Wichtig ist, dass man nicht abgeneigt ist, auf so Leute zuzugehen, sondern einfach offen sein und fragen.

Das ist Janine. Sie ist 29 und hat eine kognitive Beeinträchtigung. Sie hat eine Lernschwäche. Sie ist eine von rund 1,7 Millionen Menschen in der Schweiz mit einer Beeinträchtigung. Dank dem Begleiteten Wohnen von Pro Infirmis kann sie alleine in ihrer 2 1/2 Zimmer-Wohnung leben. 

[Andrea] Sie haben ja ganz genaue Vorstellungen, was es für Sie heisst, dass Sie eine Beeinträchtigung haben und wie Sie möchten, dass Menschen darüber informiert sind und nachdenken.

Das ist Andrea. Sie ist die Wohnbegleiterin. Die Sozialpädagogin trifft sich einmal pro Woche mit Janine. In diesem Podcast begleiten wir die zwei Frauen ein Stück auf ihrem Weg. Meine Wohnung, mein Leben: der Podcast zum Begleiteten Wohnen von Pro Infirmis.

[Cheyenne] Hallo miteinander, willkommen zur fünften und letzten Folge von "Meine Wohnung, mein Leben", dem Podcast zum Begleiteten Wohnen von Pro Infirmis. Wir haben uns ja schon kennengelernt. Ich bin Cheyenne und ich durfte mit Janine und Andrea zusammen diesen Podcast machen. Es ist schon ein paar Wochen her, seit dieser Podcast herausgekommen ist. Ganz viele Leute haben diesen Podcast angehört und er hat auch mich zum Denken angeregt. Darum treffen wir uns heute noch einmal im Podcast-Studio, um zusammen ein paar Fragen zu klären, die aufgekommen sind. Und zum Nachfragen, wie ist es euch gegangen nach der Veröffentlichung von diesem Podcast. Ich freue mich sehr, dass du Janine und du Andrea heute noch einmal mit uns im Studio seid. Hallo zusammen.

[Janine und Andrea] Hallooo. (alle drei lachen)

[Cheyenne] Und mit am Tisch ist auch Sidney Winteler, er ist Koordinator vom Begleiteten Wohnen bei Pro Infirmis Zürich, hallo Sidney.

[Sidney] Hallo. 

[Cheyenne] Zuerst die Frage an unsere beiden Protagonistinnen Janine und Andrea: Ihr habt ja mehrere Tage lang eure Gespräche aufgenommen, ich habe euch ein Aufnahmegerät mitgegeben und ihr habt es Zuhause auf den Tisch gelegt, ihr habt angefangen zusammen zu reden und ich habe das dann alles zusammengeschnitten. Ihr habt viel mehr aufgenommen, als wir dann gehört haben. Seid ihr zufrieden mit dem Zusammenschnitt?

[Andrea] Es ist ganz ruhig. (lacht). Wir haben schon darüber geredet. Ja, wir sind, oder ich bin sehr zufrieden mit dem Zusammenschnitt. Ich finde, es ist lebendig und spannend geworden. Was uns ein bisschen gefehlt hat, viel lachen wir auch zusammen, uns hat das gefehlt, das schwungvolle, Lustige, schöne, das wir auch miteinander haben. Wie ist es Ihnen gegangen?

[Janine] Mir hat auch ein bisschen das Lustige gefehlt. 

[Cheyenne] Das tut mir im Fall wirklich gerade leid, dass ich euch da offenbar Lacher herausgeschnitten habe. Vielleicht gebe ich da gerade zu Sidney, der ja in dem Fall Hörer ist. Hast du auch keine Lacher gehört?

[Sidney] Ich muss ehrlich sagen, das ist mir gar nicht so aufgefallen. Ich habe mich wirklich auf den Inhalt und auf das Schöne, wo man auch einen intimen Einblick bekommt, fokussiert und von dort her habe ich das in dem Sinn nicht vermisst. Aber ich kann mir natürlich vorstellen, wenn man so in der Arbeit ist oder beim Aufnehmen ist, dass das ein fester Bestandteil sein soll und darf. Für mich jetzt als Hörer, ich habe es nicht vermisst. 

[Cheyenne] Das ist eine Herausforderung als Produzentin, weil ich höre alles, ich höre euch, ich lerne euch kennen und Ihr Hörerinnen und Hörer da draussen, euch fehlt diese Perspektive, der ganze Blick. Ich bin die, die eine Auswahl treffen muss und ich hoffe, dass es allen so gegangen ist wie Sidney, dass euer frohes Wesen trotzdem herübergekommen ist beim hören. Janine, rückblickend, warum hast du dich dann entschieden, als Pro Infirmis gefragt hat, ich mache mit?

[Janine] Ehm, jetzt bin ich gerade...

[Andrea] Ich rate jetzt mal. Sie haben ja ganz genaue Vorstellungen, was es für Sie heisst, dass Sie eine Beeinträchtigung haben und wie Sie möchten, dass Menschen darüber informiert sind und nachdenken.

[Janine] Ja, das war eigentlich der Grund, wieso ich einen Einblick in mein Leben geben wollte.

[Cheyenne] Und hast du das Gefühl, das ist gelungen mit diesem Podcast. Konnten wir dich zeigen, konnten wir einen realen Einblick in dein Leben geben?

[Janine] Ja, ich glaube schon, dass man das konnte. Ja. 

[Cheyenne] Ich bin froh, dass wir das geschafft haben, denn es war eine Herausforderung. Es war ja auch sehr persönlich. Dass ich damit achtsam umgehe und nichts beschönige oder auch nichts ändere, sondern, dass es so ist, wie ihr den Moment zusammen erlebt habt. Hast du, Sidney, schon einmal so einen direkten Einblick bekommen in das Angebot, das du koordinierst.

[Sidney] Ich bin immer wieder unterwegs und bin auch bei den Nutzenden vor Ort, gerade am Anfang, von dem her habe ich vielseitige Einblicke, aber so intensiv und intim, wie das in dem Podcast gewesen ist, das ist natürlich nochmal etwas anderes.

[Cheyenne] Und ist das, was wir von Janine und Andrea gehört haben, ist das eine klassische Form, kann man sagen, so sieht das im Allgemeinen aus bei dem Begleiteten Wohnen.

[Sidney] Ich glaube, das Begleitete Wohnen zeichnet sich dadurch aus, dass es sehr individuell aufgebaut ist. Von dem her kann das individuell auch sehr anders aussehen. Aber es bildet sicher eine klassische Form einer Begleitung ab, deshalb finde ich es sehr schön, dass man das so umsetzen konnte, weil es auch exemplarisch dastehen soll.

[Cheyenne] Was war denn für dich als Dienstleister von dem Angebot, warum war es dir wichtig, Aussenstehenden so einen Einblick bieten zu können?

[Sidney] Ich glaube es ist wichtig, dass man versteht, was das Begleitete Wohnen ist. Und besser, als aus der Praxis zu erfahren, was das bedeuten kann, gibt es eigentlich nicht. Da hat man es sehr intim gesehen oder gehört, was das ausmachen und beinhalten kann. Und wenn man das hört, kann man sich auch Bilder machen und ich glaube, das ist der erste Berührungspunkt, der einem hilft, vielleicht auch mal näher zu erfahren, was heisst das für mich konkret, dieses Bild zu bekommen und aufgrund von dem vielleicht auch mal der Pro Infirmis anzurufen um zu fragen, ich hätte allenfalls Interesse am Begleiteten Wohnen, weil ich möchte selbstständig wohnen und so weiter. 

[Cheyenne] Das ist auch ein Ziel des Podcasts, dass man das Interesse weckt, dass man den Zugang zu diesem Angebot vereinfacht. Vielleicht trotzdem für Leute, die nicht ganz sicher sind, die vielleicht den Podcast angehört haben und gerne auch wie Janine das Angebot nutzen möchten. Wer kann sich da melden bei Pro Infirmis melden?

[Sidney] Das sind unterschiedlichen Menschen mit Unterstützungsbedarf, die den Wunsch haben, so selbstständig wie möglich wohnen zu können. Meistens haben sie eine eigene Wohnung, einen eigenen Mietvertrag, brauchen aber im Alltag, in lebenspraktischen Sachen, vielleicht noch gewisse Unterstützungen. Das kann das Begleitete Wohnen erfüllen. Es ist in dem Sinn ein niederschwelliges Angebot, das eine gewisse Eigenständigkeit voraussetzt. Aber es soll vor allem auch Menschen mit Unterstützungsbedarf befähigen, lebenspraktische Fähigkeiten im Alltag erlernen zu können, mit Unterstützung der Begleitperson, um sie allenfalls später so selbstständig wie möglich umsetzen zu können.

[Cheyenne] Das haben wir ja sehr schön gehört bei dir, Janine, dass Andrea dich wirklich auf allen Ebenen unterstützt. Was mich beeindruckt hat, es geht um das Reparieren eines Wasserhahns oder um den Einkauf, aber es geht viel weiter, ihr habt so viele Diskussionen geführt. Es geht ganz tief. Janine, haben dir Leute aufgrund von dem Podcast auch Fragen gestellt oder sind da Rückmeldungen von Leuten gekommen, die etwas von dir wissen wollten?

[Janine] Ich habe ja den Podcast gepostet auf Facebook. Und ich habe Kommentare bekommen, und zwar bevor ich zu der Familie [...] gekommen bin, war ich in einer anderen Pflegefamilie. Sie hat gesagt, es hat sie mega berührt und es sei ihr hochgekommen, wo ich Kind gewesen bin. Sie hat auch geschrieben, dass die KESB ihre Bedenken nicht ernstgenommen hat. 

[Cheyenne] Du hast ja erzählt, dass du eine Beiständin hattest, die du dann auch gewechselt hast, aber ich nehme an, das war vor der Bauernhof-Zeit, als Kind.

[Janine] Das war vor der Bauernhofzeit. Das war, als ich noch ein Kind war.

[Cheyenne] Und diese Pflegefamilie, von der sich die Frau gemeldet hat, warst du da am Wochenende oder mehr? 

[Janine] Mehr, ja. Der jüngere Sohn von ihnen hat mir geholfen beim Schuhe binden. Schade habe ich dann gefunden, als sie weggezogen sind in den Kanton Aargau.

[Cheyenne] Darum konntest du nicht mehr bei ihnen bleiben?

[Janine] Ja.

[Cheyenne] Und sie haben deine Bedürfnisse sehr gut gespürt.

[Janine] Ja.

[Cheyenne] Und du hast seither nie mehr Kontakt gehabt, bis jetzt dieser Podcast herausgekommen ist?

[Janine] Bis ich es auf Facebook herausgefunden habe, und dann habe ich wieder Kontakt mit ihr aufgenommen.

[Cheyenne] Das ist schön. Das heisst, du bist jetzt noch in Kontakt. 

[Janine] Ja.

[Andrea] Wir haben auch noch darüber gesprochen, dass es berührend ist, auch für Sie, die Erinnerung an früher, dass Sie sich nicht trügen. Wir haben darüber gesprochen, man bekommt wenig Bestätigung, wie waren die Situationen, als man noch ein Kind war. Das hat Ihnen gezeigt, dass Sie mit vielem, mit vielen Gefühlen, auch richtig gelegen sind. Und ich denke, da haben Sie auch darüber geredet, das ist sehr positiv für Sie. 

[Janine] Ja, ja. 

[Cheyenne] Andrea, hast du auch gerade eine schöne Geschichte, die du mitbringen kannst aufgrund von diesem Podcast?

[Andrea] Ich bin schon fast sprachlos, eigentlich weniger. Für mich war es lustig, ich bin ja 48 geworden, dass es mich zum ersten mal findet, wenn man meinen Namen eingibt. Ich habe bis jetzt ja keine Spuren gehabt im Internet, ausser das Telefon, die Weissen Seiten, das ist speziell. Aber ich habe das nirgends gepostet und es weiss es auch fast niemand. Von dem her habe ich wenig konkretes Feedback bekommen.

[Cheyenne] Hat das Machen bei dir etwas ausgelöst? Weil die Situation war ja eine echte, ihr redet ja so, trotzdem, ihr habt das Aufnahmegerät gehabt, dann ist eine Situation ein bisschen verfremdet, wie ist es dir damit gegangen? 

[Andrea] Ja, das war natürlich eine ganz schwierige Aufgabe für mich. Zu wissen, was ich sage ist auf dieses Gerät gebrannt und es wird öffentlich gemacht. Ich habe es dann auch in deine Hände gegeben. Klar konnte ich es hören, bevor es veröffentlicht wurde, aber es war ein Entschluss, mache ich es oder nicht. Ja, ich unterstütze Frau Zobrist gerne, wenn sie das macht. Ja, das ist schon speziell. Und es wirkt alles unnatürlich, wie man sich hört, die Wortwahl, bin ich professionell, das hat sehr viel in mir ausgelöst.

[Cheyenne] Cheyenne, wenn ich das richtig sehe, bist du eigentlich der Chef von Andrea (Gelächter).

[Sidney] Das ist so, ja. 

[Cheyenne] Wie ist das jetzt, wenn man als Chef seiner Mitarbeiterin beim Arbeiten zuhört?

[Sidney] Man bekommt so viel mit, wo man sonst vielleicht gar nicht die Chance hätte. Von daher sehe ich das als Chance, auch zum sehen, was in der Praxis auch wirklich passiert. Für mich war es sehr interessant, zu sehen, was läuft, wenn ich nicht dort bin. Von dem her ein sehr gutes Abbild von der Praxis, läuft es so, wie wir uns das vorstellen oder auch nicht. Das finde ich wirklich sehr spannend.

[Cheyenne] Ich durfte euch ja begleiten und auch schneiden und ich muss sagen, für mich war das auch manchmal mit Hemmungen verbunden, dass ich nicht wusste, wie weit darf ich gehen, was darf ich fragen und was nicht? Beim Schneiden dachte ich dann, hätte ich das doch gefragt, aber dann wäre Janine vielleicht böse geworden oder so. Deshalb stelle ich hier die generelle Frage: Was ratet ihr Menschen, die Berührungsängste mit dem Thema haben? Also, Janine, was soll ich machen? 

[Janine] Wichtig ist, dass man nicht abgeneigt ist, auf so Leute zuzugehen, sondern dass man einfach offen ist. Also dass man sich nicht von Gefühlen leiten lässt, darf ich jetzt nicht helfen oder so, sondern einfach offen sein und fragen.

[Cheyenne] Dann stelle ich jetzt noch ein paar Fragen, die ich mich nicht getraut habe, oder die mir aufgefallen sind, für mein Verständnis. Janine, du hast ja im Podcast erzählt, ein Thema ist das mit der Beiständin. Wir haben erfahren, dass du schon als Kind eine hattest und auch deine Eltern eine hatten, dass du sie dann gewechselt hast nach der Zeit auf dem Hof und jemanden bekommen hast, der dich ernst genommen hat. Und was ich dann gemerkt habe, dass ich gar nicht genau weiss, was macht eine Beiständin überhaupt?

[Janine] Ich habe eine Beiständin, sie verwaltet mein Kleinvermögen. Darauf habe ich selber keinen Zugriff. Sie zahlt meine Rechnungen, also Krankenkasse, Arztrechnungen, Zahnarztrechnungen und das Internet, TV, Natel und das GA, das ich selber nicht zahlen könnte.

[Cheyenne] Also finanziell dir nicht leisten könntest. 

[Janine] Ja, genau.

[Cheyenne] Das bezahlt die Beiständin aus ihrem privaten Vermögen?

[Janine] Nein, das zahlt sie von meinem Geld. Von meinem Kleinvermögen. Das Kleinvermögen ist etwas, das ich gespart habe. Meine Eltern haben ein Sparkonto für mich eingerichtet. Meine Beiständin überweist mir jede Woche Haushaltsgeld und das darf ich dann für das Essen und für Sachen brauchen, die ich im Haushalt brauche.

[Cheyenne] Ein grosses Thema war ja auch, dass du erzählt hast, dass du nicht in dieser Institution, auf diesem Bauernhof sein möchtest. Und du musstest dich aktiv dafür einsetzen. Eine Frage an die Fachperson: Hat man da die Wahl, einen Beistand zu wählen oder bekomme ich den im Normalfall einfach zugewiesen?

[Sidney] Es gibt eine Verfügung der Verbeistandschaft. Dort wird festgelegt, wer die Beistandschaft übernimmt. Natürlich schaut man auch, ob es im Umfeld jemanden gebe, der das übernehmen könnte. Wenn das nicht der Fall ist, gibt es die berufliche Beistandschaft, die das macht. Der Entscheid wird gefällt, dann wird die Zusammenarbeit angeschaut. Wie Janine gesagt hat, sie hat ja mal gewechselt, es gibt die Möglichkeit, wenn man sieht, diese Zusammenarbeit funktioniert nicht, dass man das noch einmal anschaut und sagt, vielleicht gibt es eine bessere Lösung, wo man die inidividuellen Bedürfnisse besser abdecken kann.

[Janine] Ich habe jetzt Berufsbeiständin, die ich nur etwa zwei Mal im Jahr sehe.

[Cheyenne] Und wie fest eine Beiständin oder ein Beistand ins Privatleben eingreift, ist von Person zu Person unterschiedlich?

[Sidney] Das ist nach dem individuellen Bedarf ausgerichtet.

[Cheyenne] Aber es wird verfügt, dass man eine Beiständin haben muss...

[Sidney] Das wird über die KESB geregelt, ja. Sie entscheidet, braucht jemand eine Beistandschaft oder nicht. Es wird festgehalten, wo ist der Bedarf, wo man auch einen gewissen Schutz haben möchte, dass ein gutes und möglichst selbstständiges Leben ermöglicht werden kann.

[Cheyenne] Und bei dir ist es einfach der finanzielle Aspekt. 

[Janine] Ja. 

[Cheyenne] Wir haben übers Abstimmen geredet. Und ich als Laie dachte immer, wenn man eine Beiständin hat, ist man quasi entmündigt. Das ist aber nicht so?

[Sidney] Nein, das ist nicht so. Man schaut heute viel individueller an. Es gibt hauptsächlich eine Vertretungsbeistandschaft und das, was Sie angesprochen haben ist eine umfassende Beistandschaft. Das ist kantonal noch ein bisschen unterschiedlich, aber auf der Verfassungsebene ist es so, dass man bei einer umfassenden Beistandschaft nicht abstimmen und wählen könnte. Das ist in der Schweiz so geregelt. Es sind aber Projekte vorhanden, um das quasi aufzulösen. Das betrifft doch etwa 15'000 Leute in der Schweiz, die dem unterliegen und die politischen Rechte nicht wahrnehmen können. Aber zum Beispiel im Kanton Genf wurde letztes Jahr darüber abgestimmt, dort sind die Möglichkeiten vorhanden auf kantonaler Ebene, nicht auf nationaler Ebene. Aber es gibt Anstrengungen, in verschiedensten Organisationen, um genau das aufzulösen, damit alle Menschen, ob mit Unterstützungsbedarf oder nicht, auch am politischen Leben teilnehmen können.

[Cheyenne] Hast du denn auch Schnittstellen mit der Beiständin, Andrea?

[Andrea] Selten. In der Begleitung sage ich oft, das müssen Sie mit der Beiständin anschauen, wenn es um die Finanzen geht. Sonst gibt es vielleicht mal eine Sitzung, wo ich sie auch sehe. 

[Cheyenne] Das haben wir ja gehört, zum Beispiel, wenn es um deine Hochzeit geht. Ihr habt ja viel über die Hochzeit geredet, aber wenn es darum geht, wer zahlt die Sachen, dann kommt die Beiständin ins Spiel. Beim Thema Heiraten und Kinderwunsch: Hat sie da auch Mitzureden, denn du hast mal gesagt, es sei dir wichtig, dass alle Menschen heiraten dürfen.

[Janine] So wie ich das sehe, habe ich das Gefühl, es gibt in der Schweiz sehr wenige Menschen mit Beeinträchtigung, die verheiratet sind. 

[Cheyenne] Aber, Sidney, rechtlich gesehen bräuchte man da ein Einverständnis von einer Drittperson?

[Sidney] Grundsätzlich nicht, nein. In dem Sinn ist das ein höchstpersönliches Recht, mit wem ich mein Leben verbringen möchte. Es ist immer ein Aushandlungsprozess im ganzen System, wo man miteinander diskutiert und das anschaut.

[Cheyenne] Das tönt jetzt für mich sehr technisch, ein Aushandlungsprozess in einem System. Wenn ich jemanden heiraten möchte, dann habe ich ihn gerne und dann möchte ich ihn einfach heiraten, was muss man da aushandeln?

[Sidney] Es geht sicher darum, dass man alle Leute im Boot hat und dass man die verschiedenen Meinungen einholt und versucht, das miteinander zu thematisieren. Natürlich entscheidet man das zwischen den Personen, das ist klar. Aber es geht auch darum, dass alle miteinander das unterstützen, das ganze System, oder das ganze Umfeld und die Familie das auch mittragen. Weil ich denke, wenn es dort allenfalls zu Krisen kommt oder Schwierigkeiten, das ist dann nicht einfach. Aber das geht uns allen vielleicht ein bisschen so, dass man auch schaut, wie kann man es so gestalten, dass es am Schluss für alle gut aufgeht.

[Cheyenne] Dort kommt ja noch dein Kinderwunsch ins Spiel, den du auch im Podcast ansprichst. Ist das auch etwas, was die Beiständin mit dir bespricht?

[Janine] Wir haben das schon miteinander angeschaut. Sie hat gesagt, ja, man schaut... Also bei uns Menschen mit Beeinträchtigung ist es halt doch immer noch so, dass man, wenn wir jetzt Kinder hätten, dass man dort viel genauer hinschaut.

[Cheyenne] Wohin?

[Janine] Wie das Umfeld ist. Ich habe ihr schon gesagt, dass ich das gegenüber uns nicht so fair finde.

[Cheyenne] Dass man dort eine Umfeld-Abklärung, wie man das bei der Ehe, macht. Wie ist das dann im Bezug aufs Begleitete Wohnen. Weil du hast gesagt, Janine, du und dein Verlobter sind jetzt zusammen eine Wohnung am suchen. Habt ihr schon eine gefunden?

[Janine] Nein (lacht). Meine Beiständin hat gesagt, es könnte Frühling bis Spätsommer werden, bis wir etwas gefunden haben.

[Cheyenne] Gibt es dann vom Begleiteten Wohnen für diese Situation ein extra Angebot, bei zwei Menschen mit Beeinträchtigung, die zusammenziehen und vielleicht Kinder haben?

[Sidney] Wenn es um ein Paar geht, gibt es allenfalls einen Bedarf für eine Paarbegleitung. Aber mit Kindern ist ist mir nichts bekannt. Das heisst nicht, dass es gar nicht vorkommt oder vorgekommen ist.

[Cheyenne] Wenn ich dich so gehört habe, habe ich das Gefühl, einerseits bist du froh, dass es diese Unterstützung gibt, und andererseits höre ich dich ein bisschen sagen, sorry, bei dieser Cheyenne da würdet das auch nicht alles auffahren, warum denn bei mir, spüre ich das richtig?

[Janine] (lacht) Also was mir einfach wichtig ist, ist, dass diese Hilfe da ist, wenn ich sie brauche. Aber ich bin froh, wenn es mir nicht aufgezwungen wird, dass ich sie nicht in Anspruch nehmen muss, wenn ich sie nicht möchte.

[Cheyenne] Und dass dir nicht von aussen jemand sagt, ich habe das Gefühl, du brauchst es. Das ist natürlich eine schwierige Herausforderung, stelle ich mir vor. Andrea nickt.

[Andrea] Sie haben mir kürzlich gesagt: Ich möchte dann nicht, dass schon am Anfang... und dann habe ich gesagt: Ja, natürlich. Und wir haben auch darüber geredet, eine Begleitung macht nur dann Sinn, wenn das Gegenüber das auch möchte und annehmen kann, weil sonst kann man gerade aufhören.

[Cheyenne] Das Thema Kinder hast du ja in der letzten Folge des Podcasts erwähnt, du hast gesagt, du würdest dir wünschen, dass man an Schulen mehr über Menschen mit Beeinträchtigung aufklären soll. Ich habe dann einen Kommentar von einem Hörer gesehen, der geschrieben hat, er wünsche sich, dass vor allem auch Eltern mit Kindern ohne Beeinträchtigung ihre Kinder darüber aufklären. Das hat mich selber sehr zum Nachdenken angeregt. Ich habe auch eine kleine Tochter und von dem Moment, wo ich das gelesen habe, das Gefühl, ich gehe mit offeneren Augen zu dem Thema. Weil auch das eine Herausforderung ist als Mensch, der nicht direkt betroffen ist, an einem frischen jungen Mensch dieses Verständnis auf den Weg zu geben, diese Hürden abzubauen. Vielleicht kannst du das als Fachperson sagen, Sidney: Wie inklusiv ist das Bildungssystem grundsätzlich? Wir haben von Janine gehört, die Heilpädagogische Schule (HPS), da warst du nicht so zufrieden.

[Janine] Ja, das ist so. Ich wurde da nicht wirklich gefördert, auch nicht in meinen Fähigkeiten. 

[Cheyenne] Das war deine Erfahrung. Wie siehst du das von aussen, wo gibt es da Aufholbedarf?

[Sidney] Das ist natürlich jetzt eine persönliche Sicht von mir. Wenn man das Schulsystem anschaut, dann hat man eigentlich die Uno-Behindertenrechtskonvention, die das Recht auf Bildung einschliesst und auch das Recht auf Bildung innerhalb vom Schulsystem, also nicht in einem separaten Schulsystem wie die HPS. Und da ist man grundsätzlich daran, dass man mehr integrativ arbeitet, also wirklich auch Menschen mit Unterstützungsbedarf mehr im Regelschulbetrieb hat. Aber das ist natürlich eine Ressourcenfrage. Einerseits ja, die Idee ist gut, aber wer kann diese Unterstützung auch bieten und sind diese Ressourcen schon da? Und ich denke, dort hängt es ein wenig, dass man da noch zu wenig integrative oder inklusive Schulen hat. Es gibt sicher Initiativen auf privatschulbasis, die viel inklusiver funktionieren. Zum Beispiel Kindergarten und Spielgruppen, bei denen Kinder mit und ohne Unterstützungsbedarf zusammen sein können. Und man weiss eigentlich auch, je früher der Kontakt von Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf passiert, desto einfacher kann man eine inklusivere Welt oder Gesellschaft entwickeln.

[Cheyenne] Aber ich sehe, es läuft noch nicht so einfach, wie es hoffentlich in 10 Jahren ist. In dem Podcast oder auch jetzt, wo wir so reden mit so vielen Fragen, habe ich oft das Gefühl, Janine, du musst für Sachen kämpfen, auch in dem Schulsystem, die für mich, die als Mensch gelesen wird, der kein Unterstützungsbedarf hat, für mich ist alles selbstverständlich. Und du musst für so viele Sachen kämpfen, bei denen ich das Gefühl habe, Jesses, das habe ich mir noch gar nicht überlegt.

[Janine] Ich denke schon, dass ich für sehr vieles auch kämpfen muss. Ich habe das Gefühl, ein Mensch mit Beeinträchtigung muss für viel mehr kämpfen als einer, der keine hat. So sehe ich das.

[Cheyenne] Das braucht extrem viel Energie.

[Janine] Zum Teil ist es leider auch so, dass es für einen Menschen mit Behinderung auch sehr belastend werden kann. Und da wäre ich eigentlich froh, wenn man uns Menschen [mit Beeinträchtigungen] ein bisschen mehr Möglichkeiten gebe, dass wir nicht immer für so viel kämpfen müssen und hinstehen und so weiter.

[Cheyenne] Es ist wahrscheinlich auch eine politische Frage und ich habe gerade in der Vorbereitung auf diese Schlussrunde hier gelesen, dass es im Kanton Zürich einen Gesetzesentwurf gibt zu einem sogenannten Selbstbestimmungsgesetz, das immerhin einen Teil so abdeckt von dem, nämlich dass ein Mensch mit einer Beeinträchtigung mehr Wahlfreiheit haben soll. Das Gesetz sieht vor, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung künftig selber entscheiden dürfen, wo sie wohnen. Habe ich das richtig zusammengefasst, Sidney?

[Sidney] Das ist richtig zusammengefasst.

[Cheyenne] Das ist aber erst ein Entwurf und das ist noch nicht spruchreif? 

[Sidney] Genau, das ist noch ein Entwurf, der im Moment angeschaut werden kann. Das wird natürlich noch eine gewisse Zeit gehen, bis es dann eine Verordnung dazu gibt, die das so klar wie möglich im Detail klärt. Das ist sicher alles auch sehr komplex zum Verstehen, vor allem, wenn man nicht vertieft in der Materie ist sowieso. Aber das Ziel des Gesetzes ist, dass die Selbstbestimmung und die Wahlfreiheit vor allem auf dem Wohnbereich zukünftig gewährleistet wird und dass wirklich der Mensch, der betroffen ist, entscheiden kann, wo er letztendlich wohnen möchte. 

[Cheyenne] Und wenn jetzt das Gesetz in Zürich in Kraft tritt, dann gilt das, wenn wir das auf Janine anwenden, nur im Kanton Zürich, aber wenn Sie in den Kanton Schaffhausen ziehen würde, würde das nicht mehr gelten? 

[Sidney] Dann würde das nicht mehr gelten, dann kommt es darauf an, was in Schaffhausen ist, ob sie schon ein Gesetz haben, das in die Richtung geht oder nicht. Du hast richtig gesagt, in anderen Kantonen gibt es zum Teil ähnliche Vorlagen oder ähnliche Gesetze, die zum Teil schon in Kraft sind und dort macht man die ersten Erfahrungen damit. 

[Cheyenne] Das ist erstaunlich, dass man das auf Kantonsebene regelt und dann vielleicht mal noch national, weil das Janine und vielen anderen Menschen ermöglichen soll, mehr selber bestimmen zu können. Das ist aber total kompliziert. Warum ist die politische Welt noch so, ich sage mal unwissend, recht im Rückstand, wenn es darum geht, Menschen mit einer Beeinträchtigung zu inkludieren? Warum ist das so kompliziert?

[Sidney] 2008 hat man entschieden, dass die Kantone zuständig sind für die Unterstützung von Menschen mit Unterstützungsbedarf. Und dort ging es vor allem auch um die Institutionen, wie werden die vom Kanton unterstützt und wie wird das geregelt? Das ist in der Zeit entstanden, und darum ist es vor allem kantonal geregelt. Das hat auch mit der Finanzierung zu tun. Wie das zukünftig sein wird, wissen wir nicht, aber es wird sicher weiterhin kantonal geregelt sein. Wichtig ist einfach, dass es in allen Kantonen hoffentlich ein solches Selbstbestimmungsgesetzt gibt, wie auch immer. Und dass Menschen mit Unterstützungsbedarf die Möglichkeit haben, selbstständig verschiedenste Entscheide im Leben, wo sie betroffen sind, zu wählen. Ich glaube, das muss das Ziel sein.

[Cheyenne] Eben Janine, es ist auf dem Weg, aber ich habe den Eindruck, in der Zeit, in der ich mich damit beschäftigt habe, wir sind noch ziemlich weit von einer inklusiven und gleichgestellten Gesellschaft weg. Wenn du einen Wunsch hättest, der morgen umgesetzt wird, um dir das Leben zu erleichtern, was wäre das? 

[Janine] Es tönt jetzt vielleicht brutal, aber wenn man wirklich von Inklusion sprechen möchte, dann müsste man ab morgen alle geschützten Arbeitsplätze abschaffen und alle HPS-Schulen ebenfalls abschaffen.

(Ein paar Sekunden Stille)

[Cheyenne] Es ist still (lacht), ich lasse das wirken, ich habe dachte, jemand von euch reagiert darauf. Das gäbe dann wieder viel Arbeit. Wenn ich das richtig interpretiere, für dich ist das in Schubladen stecken und extra Behandeln, das ist das, was dich am meisten stört.

[Janine] Ja. 

[Cheyenne] Andrea, als Mensch, der in der Arbeitswelt mit dem Thema beschäftigt ist, was dringlich?

[Andrea] Ich glaube wirklich, das, was wir hier auch machen. Weshalb ich mich auch entschlossen habe dafür. Wenn man darüber redet, wenn man darüber nachdenkt, dann wird man gehört, dann hören es auch die richtigen Leute, die Entscheidungen fällen können. Es braucht mutige Leute wie Frau Zobrist, es braucht Organisationen wie Pro Infirmis und ich denke, so kommt man weiter. Dass man Politiker, die Entscheidungen fällen müssen, auf den richtigen Weg bringen, dass die Inklusion stattfinden kann. Mir ist das wichtigste, wir haben darüber geredet, auch die Haltung, man ist offen, man wertet nicht, man gibt jedem Menschen eine Chance. Wir haben über ganz viel Schwieriges gesprochen, es hat auch ganz viel Gutes. Da habe ich den Einstieg nicht so gefunden, aber z.B. bei der Beistandschaft hat sich auch viel positives entwickelt, [zu Janine] wo Sie viel mehr mitreden dürfen als früher. Ich denke, es gibt auch ganz viele Sachen, die schon gut laufen. Dort dranbleiben.

[Janine] Ich bin froh, dass ich in der Schweiz leben darf, und dass wir ein gutes Gesundheitssystem haben. Auch mit der Krankenkasse und so.

[Cheyenne] Und ich bin froh, dass ihr so offen gewesen seid und dass wir diese Gespräche geführt haben. Vielen lieben Dank, dass ihr noch einmal ins Studio gekommen seit, und dass ihr nochmal diese Fragen beantwortet habt, ich hätte wieder 100 mehr. Und vielleicht gibt es dann noch eine zweite Staffel. Danke vielmal Sidney Winteler, danke vielmal Janine Zobrist, danke vielmal Andrea, dass wir mit euch dieses Projekt machen durften. Und ihr da draussen dürft auch weiterhin Fragen stellen auf podcast@proinfirmis.ch, dort erreichen eure Fragen Janine, Andre, Sidney oder auch die Organisation Pro Infirmis. Wir haben es gehört: Traut euch, stellt Fragen, seid offen und interessiert. Danke vielmal.


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