Zehn Jahre Assistenzbeitrag

Seit zehn Jahren gibt es in der Schweiz den Assistenzbeitrag. Er ist das Ergebnis eines sozialen Kampfes – des Willens von Menschen mit Behinderungen, ausserhalb des institutionellen Rahmens selbstbestimmt zu Hause zu leben. Zehn Jahre Assistenzbeitrag haben die positiven Aspekte und die Herausforderungen, die diese Leistung mit sich bringt, deutlich gemacht. Dank dem Assistenzbeitrag können Menschen mit Behinderungen selbst entscheiden, wie und mit wem sie leben möchten. Die Liste der Schwierigkeiten, die sich um diese IV-Leistung ranken, ist aber trotzdem lang. Vor allem ist der Verwaltungsaufwand zu hoch und das Arbeitgebermodell, das viele Vorteile mit sich bringt, ist sehr komplex und hat keine Alternativen.



Video zum Leben mit Assistenz: Nadja und Hanna


Konferenz: Bilanz und Perspektiven zum Assistenzbeitrag

Am 18. Mai 2022 stand die Welle 7 beim Bahnhof Bern einen Tag lang im Zeichen von Diskussionen, Ideen und Zukunftsvisionen zum Assistenzbeitrag, den es in der Schweiz nun seit zehn Jahren gibt. Rund 140 Personen aus der ganzen Schweiz haben an der von Pro Infirmis veranstalteten Konferenz «Zehn Jahre Assistenzbeitrag» teilgenommen.

An der von Pro Infirmis organisierten Konferenz wurde deutlich: Der Assistenzbeitrag ist ein wichtiger Meilenstein für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen – aber es gibt noch grosses Verbesserungspotenzial.

Fotos der Konferenz

Fabiana Gervasoni (im Rollstuhl) hält einen Vortrag vor Publikum
Fabiana Gervasoni, Präsidentin der Kantonalkommission Pro Infirmis Aargau-Solothurn.
Roland Gossweiler hält einen Vortrag vor Publikum
Roland Gossweiler, Delegierter des Vorstandes des Schweizerischen Blindenbundes für Sozialpolitik und Interessenvertretung.
Mehrere Personen in einem Gespräch vor Publikum
Ein Gespräch zu den Herausforderungen auf parlamentarischer Ebene mit Christian Lohr, Nationalrat die Mitte (TG), Barbara Gysi, Nationalrätin SP (SG) und Marina Carobbio Guscetti, Ständerätin SP (TI).
Stephanie Mukoyi (im Rollstuhl) und Assistentin halten einen Vortrag vor Publikum
Stéphanie Mukoyi, Bezügerin des Assistenzbeitrags und Mutter.
Mehrere Personen vor Publikum im Gespräch
Runder Tisch zum Thema: «Leben zu Hause mit privatem Personal: Fragen zum Status von Assistentinnen und Assistenten.»
Frau mit weissem Langstock und Frau im Rollstuhl unterhalten sich.
Neben den Vorträgen und Podien ...
Zwei Frauen im Rollstuhl unterhalten sich.
... gab es an der Konferenz auch viele Begegnungen.

Video-Statements von der Konferenz

Statements von Konferenzteilnehmenden zum Assistenzbeitrag

Porträt von Fabiana Gervasoni

Fabiana Gervasoni

Viele Menschen mit Behinderungen kommen aus gewachsenen Strukturen wie Familien oder Institutionen, wo ihnen viele Entscheidungen abgenommen werden. Wer aus solchen Strukturen kommt und anschliessend ein selbstbestimmtes Leben mit Assistenz organisieren soll, wird ins kalte Wasser geworfen. Der Assistenzbeitrag ist ein wirkungsvolles Instrument, Betroffene müssen jedoch in ihrer Entscheidungskompetenz früh ermächtigt werden, damit sie den Assistenzbeitrag und seinen Nutzen voll ausschöpfen können. Diese Ermächtigung sollte daher ein Bildungsschwerpunkt in der Sonder- sowie der integrativen Schule sein – zudem sollte man schon in der Schulzeit mit Assistenz arbeiten können, damit Betroffene möglichst früh damit in Berührung kommen.

„Menschen mit Behinderungen müssen in ihrer Entscheidungskompetenz früh ermächtigt werden, damit sie den Assistenzbeitrag und seinen Nutzen voll ausschöpfen können.“

Fabiana Gervasoni, MLaw, Präsidentin der Kantonalkommission Pro Infirmis Aargau-Solothurn

Simone Leuenberger

Die Einführung des Assistenzbeitrags vor 10 Jahren war eine riesige Errungenschaft für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Das gilt auch heute noch, aber es sind einige Schwächen bei der Umsetzung deutlich geworden. Nicht alle Menschen mit Unterstützungsbedarf können den Assistenzbeitrag beantragen und die Leistungen sind nach oben begrenzt. Es ist noch zu wenig im Bewusstsein, dass es beim Assistenzbeitrag nicht um eine Sonderleistung geht – sondern darum, einen Alltag zu ermöglichen, der für Menschen ohne Behinderung selbstverständlich ist. Nicht nur der Bund, auch die Kantone sind gefordert. Es braucht jetzt ein klares Bekenntnis von Gesellschaft, Politik und Verwaltung, die Hürden auf dem Weg zur Selbstbestimmung wegzuräumen.

„Es braucht jetzt ein klares Bekenntnis von Gesellschaft, Politik und Verwaltung, die Hürden auf dem Weg zur Selbstbestimmung wegzuräumen.“

Simone Leuenberger, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei AGILE.CH und Geschäftsleiterin von InVIEdual

Nadja Schmid

Die Einführung des Assistenzbeitrags ist vorbildlich, aber die Umsetzung ist noch alles andere als ideal. Wer Assistenz beansprucht, steht plötzlich vor ganz vielen neuen Herausforderungen. Die Behörden sprechen zwar Geld, bieten aber darüber hinaus keine Hilfe. Wir brauchen eine übergeordnete Instanz aus Selbstvertretenden, die solche Hilfestellungen bietet. Dazu gehören Know-how bei der Rekrutierung, Konfliktmanagement, Personalführung und vieles mehr. Diese Aufgaben übernehmen zurzeit lediglich Privatpersonen – das ist einfach nicht genug, bedenkt man, wie viele Menschen mittlerweile mit Assistenz leben. Es darf nicht sein, dass Menschen wegen dieser Hürde der Selbstverwaltung oder gar des Gefühls, allein gelassen zu werden, in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt werden.

„Wir brauchen eine übergeordnete Instanz aus Selbstvertretenden, die Hilfestellungen für Menschen mit Assistenzbedarf bietet.“

Nadja Schmid, Arbeitgeberin von 13 Assistenzpersonen, Beraterin zum Thema Leben mit Assistenz

Frédéric Widmer und Maryka Lâamir

Die primären Ziele des Assistenzbeitrags sind die Förderung der Selbstbestimmung, eine bessere soziale Integration und die Entlastung von Angehörigen. Diese Ziele wurden erreicht. In einer Umfrage zwischen 2012 und 2017 gaben 69% der befragten Betroffenen an, dass die Belastung ihrer Angehörigen durch den Assistenzbeitrag verringert wurde. Es gibt aber noch Verbesserungspotenzial. In der Umfrage haben Betroffene mehrere Aspekte genannt, die noch verbessert werden können. Dazu gehören unter anderem die Verringerung des administrativen Aufwands, die Ausweitung des anerkannten Hilfsbedarfs, eine Starthilfe in Form eines Leitfadens und dass man Familienmitglieder einstellen kann.

„Die primären Ziele des Assistenzbeitrags – Förderung der Selbstbestimmung, bessere soziale Integration und Entlastung der Angehörigen – wurden erreicht. Es gibt aber Verbesserungspotenzial.“

Maryka Laamir, Verantwortliche Hilflosenentschädigung und Assistenzbeitrag, BSV & Frédéric Widmer, Projektleiter, Bereich Forschung und Evaluation, BSV
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